Zu Weihnachten und über den Jahreswechsel gibt es für die meisten mehr Zeit und Ruhe als sonst. Die Regierung hilft dabei noch ein bisschen nach. Aber auch ohne verordnete Kontaktbeschränkungen gehören die Tage am Jahresende dem Rückzug nach innen. Dafür empfehlen die Publico-Autoren und die Redakteurin Geschenke – für andere und Sie selbst. Allen Lesern viel Vergnügen und ein frohes Fest!
Die Feiertage und langen Winterabende sind die perfekte Zeit, anderen und sich selbst Lektüre zu schenken. In der ersten Folge der Publico-Buchempfehlungen: drei Klassiker, die nach Jahrzehnten ein zweites Mal beziehungsweise zum ersten Mal auf Deutsch erschienen sind. Und sich, jedes auf seine Weise, als bewundernswert frisch erweisen.
„Ich meinerseits gebe die Hoffnung nicht auf, solange ich lebe, zum Bankrott
gewisser Zeitungen beizutragen. Das wird sehr schwierig, denn in Frankreich
werden die Zeitungen vom Staat unterhalten —- in meinen Augen übrigens eine
der am wenigsten gerechtfertigten, ja eigentlich skandalösesten öffentlichen
Ausgaben dieses Landes.“
Michel Houellebecq
aus seiner Rede anlässlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises 2016
„Ich glaube nicht, dass ein vernünftiger Mann in Deutschland ist, der sich um
das Urteil einer Zeitung bekümmert, ich meine, der ein Buch verdammt, weil es
eine Zeitung verdammt, oder schätzt, weil es eine Zeitung anpreist, denn es
streitet schlechterdings mit dem Begriff eines vernüftigen Mannes.“
Georg Christoph Lichtenberg
Notizen, Heft F (1776-1779)
Die Musikauswahl beim Zapfenstreich zur Verabschiedung eines Spitzenpolitikers entspricht ungefähr dem letzten Pinselstrich an einem Selbstporträt, also der Signatur.
Der Prozess gegen den Jugendlichen, der zwei Menschen in Notwehr erschoss, markiert einen neuen politisch-journalistischen Tiefpunkt: Das Narrativ verdrängt das eigentliche Ereignis fast völlig. Ein Teil des Medienbetriebs hat längst begonnen, in einer Metarealität zu leben
Es gibt Momente, in denen ein kurzer heftiger Sog entsteht, wenn eine Kapsel, in der starker Unterdruck herrscht, nicht mehr ganz dicht schließt. Bevor es zum kompletten Druckausgleich zwischen Drinnen und Draußen kommt, müssen diejenigen in der Kapsel, die nur noch in ihrer speziellen Atmosphäre leben können, schnell alle Ritzen schließen, bevor sie die alten Verhältnisse wieder herstellen.
Liebe Leser von Publico, nach einer Zwangspause mit Bewegungseinschränkungen und einem zum Glück kurzen Klinikaufenthalt ist der Autor wieder zurück, und zwar schon seit ein paar Tagen, in denen der aktuelle und ziemlich ausführlich geratene Text über den Fall Kyle Rittenhouse und die Medien entstanden war. Das Stück hätte bei einem regulären Gang der Dinge schon in der vergangenen Woche erscheinen sollen.
Eine Lehre aus dieser allerletzten Zeit lautet: Es geht nicht immer seinen regulären Gang. Zum Glück gibt es medizinische Fachkräfte und Medikamente. Und natürlich die Publico-Leser. Für Ihre guten Wünsche bedanke ich mich sehr herzlich, für ihre Geduld, wenn Publico eine Woche ohne größeren Text bleibt, und für Ihre auch sonst in jeder Hinsicht großartige Unterstützung.
„Die kleinste Minderheit auf der Erde ist das Individuum. Diejenigen, die
individuelle Rechte leugnen, können nicht behaupten, Verteidiger von
Minderheiten zu sein.“
Von Publico gelesen und empfohlen: Zwei Essays über Medien und Kulturkampf in den USA – und ein Text aus der NZZ über die merkwürdige deutsche Praxis, Tagesthemenkommentare zu verfilmen
In Dave Eggers’ „Every“ tritt ein Hyper-Konzern an die Stelle der Regierung. Er schafft einen neuen Menschen, der sich bereitwillig überwachen und führen lässt. Neben Houellebecqs „Unterwerfung“ ist der Thriller über die neue Weltordnung das wichtigste Buch der Gegenwart – ein Roman auf der Höhe der Zeit. Er führt zu der Kernfrage: Will eine Mehrheit der Menschen frei sein? Oder macht es ihnen vor allem Angst?
Auf einer halb natürlichen, halb künstlichen Insel in der San Francisco Bay, auf einem Untergrund aus militärischem Müll früherer Jahrzehnte und umgeben von einem dreieinhalb Meter hohen Metallzaun liegt der neue Regierungssitz der Vereinigten Staaten.
In der FAZ polemisiert der Selbstvermarkter Anders Indset gegen Joshua Kimmich und dessen Impf-Entscheidung. Er diagnostiziert einen allgemeinen „Verlust des Denkens“. Außerdem in der Mischtrommel: Trump, Glücksspermien und Testikel. Der groteske und zugleich toxische Text markiert einen intellektuellen Tiefpunkt des Blattes – passt aber gut zu dessen neuem Selbstverständnis
Vermutlich gehört Joshua Kimmich zu den Menschen in Deutschland, die einen hohen Bekanntheitsgrad mit einem geringen Maß an Sozialkontakten verbinden, und zwar völlig unabhängig von Corona und seinem Impfstatus. Hochbezahlte Profispieler begeben sich schon aus branchenüblichen Vorsichtsgründen selten ins Getümmel. Sie empfangen auch nicht ständig Besuch, um mit allen möglichen Gästen eine Talkshow nachzustellen.
„Es ist Zeit, dass wir uns fragen wer diese Frauen sind, die
fortwährend Männer herabwürdigen. Die dümmste, ungebildetste
und widerlichste Frau kann den nettesten, liebenswürdigsten und
intelligentesten Mann herabwürdigen und niemand protestiert.“
Doris Lessing
beim Edinburgh Books Festival 2001, zitiert von The Guardian
„Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der
Anzitehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus,
sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand
durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.“
Gabor Steingart bürdet sich die Last des weisen Mannes auf, Polen endlich mit Härte zur Räson zu bringen. Mit ihm kommt der Berliner Journalismus ganz zu sich
Warum stürzen bestimmte Politiker trotz Affären und Lügen nicht? Weil sich die meisten Medien nicht mehr als Gegenspieler der Politik verstehen – und zwar freiwillig. Wohin das führt, lässt sich in dem neuen brillanten Roman von Dave Eggers studieren
Angela Dorothea Merkel nippt an ihrem Weißwein im Wintergarten ihrer Ruhestandswohnung. Das geht schon seit 2018 so; ein bisschen leer fühlt sich das Leben nach dem Amt an, vor allem wegen der unkommoden Umstände ihres Abgangs.
„Jeder Redner, der einen Satz mit 'wir brauchen' anfängt, sollte mit
Hilfe einer Klappe unter dem Pult entsorgt werden und sich durch
den Hinterausgang aus der Veranstaltungshalle entfernen. Alles
kann man brauchen, nur nicht Leute, die sagen, 'wir brauchen!'.
Peter Sloterdijk
„Neue Zeilen und Tage: Notizen 2011-2013“
„Es ist die Psyche von Menschen, die, wenn ein Land zur Diktatur
geworden ist, schreien: ‚Ich bin nicht schuld! Ich wollte nur, dass
die Regierung die Preise, die Löhne, die Gewinne, die Industrie, die
Wissenschaft, das Gesundheitswesen, die Kunst, das
Bildungswesen, das Fernsehen und die Presse kontrolliert. Ich war
nie für eine Diktatur!“
Von dem Fall Sarah-Lee Heinrich können nur Leute überrascht sein, die nicht wahrnehmen, wie erfolgreich Identitätspolitiker durch die Institutionen marschieren. Die neue Chefin der Grünen Jugend drückte nur etwas ungeschickt aus, was andere Kader der Bewegung seit Jahren über Rasse, Geschlecht und Schuld verkünden
Bis zum vergangenen Wochenende konnte nur ein größerer, aber eben doch nicht sehr großer Kreis in Politik und Medien mit dem Namen Sarah-Lee Heinrich etwas anfangen. Seit die Delegierten der Grünen Jugend die 20-jährige Studentin zu ihrer Co-Vorsitzenden wählten, kennen auch viele außerhalb der grünen Gesellschaft die Jungpolitikerin, mehr, als ihr womöglich recht sein kann.