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Politik, Gesellschaft & Übergänge

Die Kubatur des Kreises

Original post is here eklausmeier.goip.de/wendt/2021/11-die-kubatur-des-kreises.


In Dave Eggers’ „Every“ tritt ein Hyper-Konzern an die Stelle der Regierung. Er schafft einen neuen Menschen, der sich bereitwillig überwachen und führen lässt. Neben Houellebecqs „Unterwerfung“ ist der Thriller über die neue Weltordnung das wichtigste Buch der Gegenwart – ein Roman auf der Höhe der Zeit. Er führt zu der Kernfrage: Will eine Mehrheit der Menschen frei sein? Oder macht es ihnen vor allem Angst?

Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 33 min Lesezeit

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Auf einer halb natürlichen, halb künstlichen Insel in der San Francisco Bay, auf einem Untergrund aus militärischem Müll früherer Jahrzehnte und umgeben von einem dreieinhalb Meter hohen Metallzaun liegt der neue Regierungssitz der Vereinigten Staaten.

Das weitläufige Gelände heißt nicht offiziell Regierungssitz, sondern Campus. Es handelt sich auch um keine staatliche Institution, sondern formal um das Unternehmen Every, gelenkt von einer Frau namens Maebelline Holland, die sehr oft auf Videoscreens und fast nie leibhaftig erscheint. Wobei die Bezeichnung ‘Unternehmen‘ für Every nicht ernsthaft passt, ein Konglomerat, das in Dave Eggers Roman aus einer Fusion von Google (und auch ein bisschen Facebook) und Amazon entstanden ist, wobei das Netzwerk in dem Roman The Circle heißt und der übernommene Onlinehändler the jungle.

In dieser nicht allzu fernen Zukunft gibt es kaum noch irgendein Angebot in der virtuellen und auch in der analogen Welt, das nicht von Every stammt. Die Mitarbeiter auf der Insel produzieren nicht nur Programme, Apps, alle vorstellbaren und auch eigentlich unvorstellbaren Datensammelsysteme und die entsprechenden Geräte dazu, sie erzeugen vor allem ein einheitliches Bewusstsein für hunderte Millionen Menschen weltweit. Das geschieht durch ein faktisches Monopol, aber nicht durch altmodischen Zwang. Die allermeisten Bewohner der von Every durchstrukturierten Welt wollen diese Struktur, die ihnen wie ein Exoskelett Halt gibt. Die zentralen Botschaften Everys für die Welt lauten: Niemand sollte so verrückt sein, sich bei seinen Lebensentscheidungen an die eigenen Instinkte zu halten. Im eigenen Interesse sollte sich jeder der Weisheit des Kollektivs unterordnen, verdichtet in Daten und Algorithmen, die ihm sagen, welche Begriffe er benutzen soll (und vor allem, welche nicht), welches Essen er wählen, welche Kleidung er kaufen und welche Texte er lesen sollte. Das Glück des Einzelnen liegt in der Planbarkeit des Lebens, im Vermeiden von Zufällen, kurzum – das ist das Every-Schlüsselwort überhaupt – in der Sicherheit. In seiner Arbeit, sagt der musterhafte Every-Angestellte Francis, gehe es darum, „möglichst jedes Vielleicht zu eliminieren.“

Die zweite freundliche Anweisung des Hyperunternehmens lautet: Transparenz. In der Gesellschaft, die Eggers als literarische Versuchsanordnung aufbaut, herrscht dank der erfolgreichen Every-Lobbyarbeit längst das „Right To Know“, das Recht, alles über den Mitbürger zu wissen, über seinen Lebenslauf inklusive begangener Gesetzesverstöße, seinen Gesundheits- und Impfstatus und selbstverständlich alles, was er irgendwann einmal in der elektronischen Welt hinterlassen hatte. „Geheimnisse“, heißt ein Spruch, der oft auf dem riesigen Screen in der Every-Kantine und nicht nur dort auftaucht, „sind Lügen.“
Selbstverständlich durchdringt Every die Gesellschaft nicht mit dem Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen (das auch, aber auf die Umsätze verschwendet die Unternehmensleitung des Monopolisten zu Recht kaum Gedanken); sondern es geht durchweg um höhere Ziele: Die Reduzierung des Kohlendioxidabdrucks für jeden Einzelnen, die endgültige Ausmerzung von Straftaten, Krankheiten, beleidigenden Worten, überhaupt von allem, was jemandem schaden könnte.

Auf diesem Weg sind Mae Holland und ihre Kunden schon so weit vorangekommen, dass der vollkommen sichere, gesunde und glückliche Zustand der Welt zum Greifen nah liegt. Über fast alle Politiker, die irgendwann versuchten, die Macht von Every zu stoppen, tauchten zuverlässig Dossiers über finanzielle und/oder private Verfehlungen auf, die wiederum karrierevernichtende Empörungsstürme in den Netzwerken auslösten. Nur eine kleine Minderheit der so genannten _Trogs _– abgeleitet von Troglodyten – entzieht sich noch der totalen Vernetzung und Transparenz. Sie weigern sich, in Smart houses mit Kameras zu leben, tragen keine Körpersensoren und verwenden von den vielen sicherheits-, gesundheits- und klimafreundlichen Programmen nur das, was sie nicht umgehen können. In der Entwicklungsstufe der besseren Welt, in der Eggers’ Roman einsetzt, gibt es immerhin schon das gesetzliche Verbot, Kinder in den unsicheren Trog-Häusern großzuziehen.

Wer zum ersten Mal die Kontrollschleuse des Every-Geländes passiert, um dort zu arbeiten, lässt die immer noch nicht ganz geordnete Welt draußen zugunsten des reinen Modells hinter sich. Das gilt auch für die Romanheldin Delaney Wells, die aus der Trog-Welt stammt. Every, vor allem das fast allumfassende Every-Bewusstsein hält sie für die Verkörperung des Bösen schlechthin. Delaney legt sich einen manipulierten Lebenslauf zurecht, was in Zeiten der totalen Nachverfolgbarkeit außerordentlich viel Intelligenz und Mühe erfordert, und schleust sich zusammen mit ihrem Trog-Freund Wes als Agentin ihrer eigenen winzigen Untergrundbewegung in den plastikfreien, verpackungsfreien, fossilstofffreien, fleisch-, lachs- und nussfreien Every-Campus auf der Insel hinter dem Zaun ein, mit dem Plan, das Unternehmen von innen heraus zu sprengen.

Darin besteht der Plot von Eggers Roman. „Every“ gehört neben Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu den wichtigsten Büchern der Gegenwart. Beide schildern Dystopien in westlichen Gesellschaften, und in beiden geht es im Grunde um das Gleiche. Eggers selbst zieht diese Verbindung mit einem Zitat von Erich Fromm, das er dem Text voranstellt: „Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?“

Dave Eggers, 1970 in Boston geboren, wurde berühmt, indem er aus Sicht des jungen amerikanischen Literaturbetriebs praktisch alles von Anfang an falsch machte. Er belegte keine creative-writing-Kurse, er stellte sich gar nicht erst dem Wettbewerb mit anderen Autoren seiner Generation um die post- und postpostmoderne metafiktionale Großerzählung (nichts dagegen, auch die können großartig sein, siehe David Foster Wallace), sondern schrieb mit dreißig seine Lebensgeschichte unter dem Titel „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ (A Heartbreaking Work of Staggering Genius), für das er auch noch, obwohl blutiger Debütant, mit Trotz und Fußaufstampfen sein Wunschcover durchsetzte, ein romantisches, fast kitschiges Bild eines durchleuchteten Wolkenhimmels mit einem beiseitegezogenen roten Vorhang. Das Buch fand Millionen Leser, weil es sich tatsächlich um ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität handelte, aber auch, weil es quer zu allem lag, was sonst von Dreißigjährigen auf den Literaturmarkt geworfen wurde.

Mit seinen Büchern, die dann folgten, schlug Eggers immer wieder neue Haken, es folgte sein Weltreiseroman „Ihr werdet noch merken, wie schnell wir sind“ (You Shall Know Our Velocity), der Dokumentarroman „Zeitoun“ über einen amerikanisch-syrischen Familienvater, der 2005 in dem überfluteten New Orleans in die Mühlen der Terrorbekämpfung gerät, und nach einigen weiteren Stationen 2013 der Roman „The Circle“, ein Schlüsselroman über einen kalifornischen Tech-Konzern, dessen Angestellte in einem an Apples Menlo Park-Ring erinnernden Hauptquartier sitzen und versuchen, die Welt zu formatieren. Hier tritt schon die Figur Mae Holland auf, und zwar als noch von allerlei Skrupeln geplagte Rekrutin des Unternehmens. „Every“ erzählt diesen Roman fort. Hier beschreibt er die Ausmaße der neuen Erlösungslehre, die den Menschen endlich von seiner Unsicherheit befreien soll. „Every“ handelt also von der Kubatur des Circle.

Der Roman ähnelt auch darin Houellebecqs „Unterwerfung“, dass es sich um ein überragendes Buch handelt, aber nicht um überragende Literatur. Die stünde auch der Geschichte im Weg, die er dringend mitteilen muss. In „Every“ gibt es nicht die auf Diamanthärte verdichteten Sätze von Flaubert, nicht den erzählerischen Witz, mit dem Lampedusa praktisch jeden anderen Autor zur Verzweiflung treibt, nicht die Kälte eines Nabokov und nicht den gewaltigen Bogenschlag eines Thomas Pynchon. Eggers’ Mittel ist die Kolportage, er muss schließlich seine Leser ständig darüber informieren, wie es in der Every-Zukunft aussieht, obwohl seine Figuren naturgemäß schon darüber Bescheid wissen (das Problem aller dystopischen Erzählungen).
Die Geschichte folgt auf ihren 579 Seiten ihrem Pfad ohne große Abirrungen, seine Hauptfiguren stattet er ziemlich unaufwendig und ohne größere Ambivalenz aus. Die meisten Personen der Every-Belegschaft sind Karikaturen – wobei jeder Leser genau diese Art lebender Karikaturen auch in seiner Umgebung mühelos wiedererkennen dürfte. Andererseits schreibt hier ein Profi, der weiß, wann es nötig ist, die Handlung auf eine neue Bahn zu schubsen, einen neuen Charakter einzuführen, das Tempo zu verzögern, um es dann wieder anzuziehen, kurzum, der Roman entwickelt einen Sog, der seinen Leser mühelos in das Everyversum saugt. Im intelligenten Umgang mit der Kolportage zeigt sich wahrscheinlich ein schriftstellerisches Talent, das eher noch seltener vorkommt als die große Dichtung. Außerdem besitzt Eggers, was in der Every-Welt selbst nicht oder nur als Verunreinigungsspur vorkommt, nämlich Witz. Auch bei Karikaturen gibt es gute und schlechte, und der Autor gehört zu den Meistern.

Seine Dichte erhält der Text dadurch, dass Eggers keine völlig neue Geschichte über den Freiheitsverlust schreibt, sondern in seinem kalifornischen Plot auch ganze Motivketten aus den großen dystopischen Klassikern unterbringt, vor allem aus Orwells „1984“ und Bradburys „Fahrenheit 451“. An „1984“ (und natürlich an die neolinke Orthodoxie der Gegenwart) erinnert die Praxis der Everyones, Begriffe zu entkernen und ins Gegenteil zu wenden. Die Mitarbeiter des Konzerns, der, wie es einmal heißt, „Konformität herstellt“, nennen sich selbst „widerständig“. Sie nennen sich nicht nur so, sie glauben, es zu sein: „Widerständig war ein seit neuestem beliebtes Wort. Es hatte rebellisch verdrängt, das aufsässig verdrängt hatte, das Störung/Störer verdrängt hatte.“

Das von Every entwickelte Programm, das 24 Stunden am Tag die Tätigkeit seines Nutzers trackt, analysiert, ihm unentwegt Anweisungen erteilt und Menschen in Reaktionsautomaten verwandelt („damit du deine Ziele besser erreichst“), heißt „OneSelf“. Das Programm, das die Sprache kontrolliert und jedes potentiell anstößige und/oder diskriminierende Wort anmerkt, „TrueVoice“. Die App, mit der kleine Mikroverstöße gegen die Ordnung (ein fallengelassenes Einwickelpapier, ein Vordrängeln in einer Schlange) gefilmt und in eine Strafpunktekartei hochgeladen werden können, aus der nie etwas gelöscht wird, nennt sich „Sham“, ein Kofferwort aus Shame und Samaritian. Samariter ist, wer jemanden mit seinem Handy shamt, weil er dadurch seinen Mitbürger erzieht, also verbessert.
Eine Every-Abteilung, die das Land nach noch unkontrollierten öffentlichen Plätzen absucht, um dort Kameras auszustellen, sagt über sich, dass sie hilft, „Orte sichtbar zu machen“. Die Wohneinheiten auf dem Every-Campus, in die im Romanverlauf fast jeder Beschäftigte einziehen muss, tragen die Namen berühmter historischer Dissidenten. Delaney Wells landet im „Vaclav Havel“. Die Unterkünfte erweisen sich übrigens als Wiederauflage der guten alten sowjetischen Gemeinschaftsbehausungen, der Kommunalnajas, allerdings ausgestattet mit nachhaltig produziertem Obst und High-End-Design im Stil von Zaha Hadid.

Orwellesk arbeitet auch ein ganzer Every-Unternehmensbereich daran, nicht mehr korrekte, aber auch einfach zu komplizierte Figuren und ganze Szenen aus historischen Romanen zu entfernen, damit sie ein sicheres Leseerlebnis bieten. Eine der führenden Mitarbeiter dieser Abteilung weiß zwar nicht, von wem eigentlich „Jane Eyre“ stammt, dafür aber über die ideale Zahl von Figuren, Seiten und komischen Stellen, die ein Buch haben sollte, ermittelt aus dem Durchschnitt von Millionen Leserbewertungen.
In Everys Feldzug gegen das Papier wiederum klingt „Fahrenheit 451“ an. Zur unternehmerischen Tätigkeit von Mae Holland gehört es, ständig Papierfabriken aufzukaufen, um sie für immer stillzulegen, ihr wichtigstes politisches Projekt zielt auf die Zerschlagung des Postsystems, das noch immer als Überbleibsel der alten Ordnung existiert.

Das Every-Personal lässt Eggers aufmarschieren, um den Phänotyp noch nicht einmal zu parodieren, sondern eher zu skizzieren, der mittlerweile fast alle Universitäten, Redaktionen, NGOs und neuerdings auch etliche Großunternehmen im Westen fest im Griff hält.
Auf dem Insel-Campus finden außerordentlich viele zwanghafte, neurotische, komplexbeladene, angstbesessene Figuren zusammen, die mit der Welt draußen schlecht zurechtkommen, aber in dem Kraftfeld ihres durchformatierten und abgeschirmten Unternehmens zu erstklassigem Diktatorenmaterial aufblühen. Fast alle sprechen einen hochformalisierten Jargon, der aus abgesegneten, garantiert reinen Versatzstücken besteht (was allerdings auch jedes herkömmliche Gespräch sabotiert). Alle fürchten trotzdem unentwegt, irgendetwas falsch zu machen. Was die Everyones außer ihren hautengen, zur Transparenzverbesserung getragenen Bodysuits eint, ist ihre völlige Humorlosigkeit, kombiniert mit einer passiv-aggressiv verdrahteten Psyche. Keiner von ihnen zeigt auch nur die geringste Hemmung, mit immer neuen Produkten die Persönlichkeit von Millionen Menschen zu deformieren. Aber fast jeder Everybeschäftigte bräche traumatisiert zusammen, wenn ihm jemand ein toxisches Wort wie Diktatorenmaterial an den Kopf werfen würde. Was selbstredend nie passiert. So etwas verhindern Sham, TrueVoice, Kameras und KI, ohne dass sich noch ein altmodischer Geheimdienst bemühen müsste.

Die Inselwelt in der Bucht von San Francisco bildet also eine Art wertschätzendes, wokes Weltsicherheitshauptamt, deren Mitarbeiter sich mit der Weißen Rose identifizieren.
Wie will die Agentin Delaney diese Festung aufknacken? Ihre mit dem Mitverschwörer Wes ausgeheckte Idee besteht darin, Every zu radikalisieren und es dadurch in die imperiale Überdehnung und die Nutzer draußen in den Wahnsinn zu treiben. Irgendwann, glauben die beiden, müsste den Endverbrauchern die Bevormundung einfach zu bunt werden. Sie erfinden eine App, mit der Menschen per Algorithmus feststellen sollen, ob ihnen das Essen, das sie gerade verzehrt haben, geschmeckt hat. Es folgen noch ein paar weitere Ideen. Alle finden begeisterte Kunden. Weit und breit rebelliert niemand. „Ich schätze, wir müssen wohl noch absurder werden“, meint Wes. Auf ihren Vorschlag hin analysiert das an Alexa erinnernde Kommunikationsgerät, das in fast jedem Haushalt steht, alle privaten Gespräche auf Lautstärke und Tonhöhe. Hebt jemand die Stimme? Streiten sich Leute? Sobald die künstliche Intelligenz registriert, dass Bewohner eine bestimmte Schwelle überschreiten, schickt sie automatisch die Polizei zu dem Haus, selbstverständlich, um häusliche Gewalt schon im Keim zu ersticken. Auch nach diesem Zugriff auf das letzte private Terrain beginnt kein Protest gegen Every, geschweige denn ein Aufstand. Die Hausbewohner werfen ihre HearMe-Geräte nicht aus den Fenstern. Die Welt geht nicht aus den Fugen. Sie fügt sich.

Anders als in den klassischen linken Bewegungen gibt es bei Every kein Fernziel, kein Telos. Zwar müssen noch ein paar Winkel der Welt gereinigt und perfektioniert werden. Aber grundsätzlich ist die Zukunft schon da. Die Macht liegt in den richtigen Händen. Der Schlüssel zu Mae Hollands Erfolg steckt in einem Begriff, der ihr die Gefolgschaft auch der konservativen Amerikaner und mehr oder weniger aller Bewohner der westlichen Welt bringt: Sicherheit. Für das Versprechen eines planbaren und überraschungsfreien Lebens geben die meisten die Kontrolle ab, was ihnen um so leichter fällt, da sie nicht direkt eine Diktatorenfigur oder eine Partei damit beauftragen, sondern ein technisches System.
Eggers Roman führt über das Gegenspiel von Untergrundagentin und System ziemlich schnell zu der innersten Frage, ob eine Mehrheit überhaupt wünscht, ihre Lebensentscheidungen selbst zu treffen. Wenn die vielen technischen Hilfen, die das Leben strukturieren, für Millionen irgendwann zum Exoskelett werden – ist dann nicht derjenige grausam, der ihnen diesen Halt zerstört, der ja für viele schon alternativlos ist?

Zu den komischsten und zugleich traurigsten Szenen des Buchs gehört ein Strandausflug, den Delaney für ihre Kollegen organisiert. Jeder neue Every-Beschäftigte muss zum Einstand eine kleine Veranstaltung organisieren, in der er sich vorstellt, und die Untergrundagentin – eine ehemalige Park-Rangerin – hält es für eine gute Idee, mit den Kollegen an eine Bucht zu fahren, in der eine Kolonie von See-Elefanten besichtigt werden kann. Fast alle Every-Beschäftigten im Bus erleben beziehungsweise überleben – sie bezeichnen sich später als Überlebende – die Exkursion in die Natur als zutiefst verstörendes Ereignis. Schon der Anblick von Weidekühen auf der Fahrt erschüttert einige nachhaltig ( „Für einen Veganer ist das hier der Holocaust“), der Strand ist einigen zu sandig, die Sonne zu gefährlich, fast alle bemängeln die fehlenden Absperrungen zwischen sich und den See-Elefanten und stellen die Frage, ob es moralisch angemessen ist, sie anzuschauen. Aber auch die härteste Gruppe, die Sand, Sonne und Tiere überhaupt erträgt, schießt nur ein paar Fotos von sich und den Säugern im Hintergrund. „Das dauerte acht bis zehn Minuten, danach wussten sie nichts mehr mit sich anzufangen.“ Der Roman erzählt von einer, wie es jemand nennt, „Evolution innerhalb der Spezies“, die einen neuen Menschen hervorbringt. Der Homo novus everyensis muss tatsächlich von einer App ablesen, ob ihm das Essen geschmeckt hat. Er braucht Programme, die ihm den Tag strukturieren, und es stürzt ihn in tiefste Verwirrung, wenn es ihn in ein derart chaotisches und unoptimiertes Etwas wie der Natur verschlägt. Der Hauptvorwurf der Überlebenden des Drake Bay Desasters lautet, Delaney habe ihnen mit dem Ausflug etwas zugemutet, worauf sie nicht vorbereitet waren.

Neben Sicherheit ist Reinheit das zweite Schlüsselwort für die neuen Menschen. In seinem Agententhriller wechselt Eggers raffiniert, gewissermaßen undercover die Perspektiven: Eigentlich erweisen sich die von Everys Produkten geformten und genormten Menschen als höchst zerbrechlich, und Delaney als deren größte anzunehmende Bedrohung.
Bei Eggers spricht niemand die Erkenntnis explizit aus, aber sie bildet den Kern des Romans, und es ist mehr oder weniger der gleiche wie in „1984“, in „Fahrenheit 451“ und in „Unterwerfung“: Die Freiheit einer Gesellschaft hängt in letzter Instanz nicht von einer Partei oder einem Konzern ab, sondern davon, ob ausreichend viele Mitglieder der Gesellschaft frei sein wollen. Es ist ein Paradox, oder um es mit Hegel zu sagen, eine schiefe Stellung der Logik:

Der Grad der individuellen Freiheit unterliegt der kollektiven Entscheidung.

Bei „Every“ fällt natürlich auch auf, wie Eggers sich mühen muss, sein Buch noch als Dystopie erscheinen zu lassen, also einen Mindestabstand zwischen der Gegenwart und seiner Handlung herzustellen. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern beispielsweise, die verkündet: Your government is your single source of truth“, könnte samt Mimik und Tonlage aus dem Führungszirkel von Every stammen. Von Ardern stammen auch die Sätze: „Menschen, die geimpft sind, wollen wissen, dass sie von Menschen umgeben sind, die auch geimpft sind. Sie wollen wissen, dass sie in einer sicheren Umgebung sind.“

Ob hier, ob bei der Einrichtung von ‘safe spaces‘ in westlichen Universitäten, der Säuberung von Bibliotheken und Verlagsprogrammen oder der kürzlich vorgetragenen Forderung, beispielsweise die gesamte Frankfurter Buchmesse zu einem einzigen safe space zu machen – immer steht _Sicherheit _im Zentrum der Argumentation, aus der folgt, dass dann alles, was jemanden auch nur irritieren könnte und die Reinheit stört, eliminiert werden muss. In den Everyones erkennen die Leser auch Figuren wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg wieder, die sich eigentlich auf kein Gespräch mehr einlassen, sondern nur ihre Textbausteine in Endlosschleife wiederholen, und immer wieder auf die Daten verweisen, mit denen man nicht diskutieren könne, und auf die Wissenschaft, die der Gesellschaft sagt, wo es langgeht. Diesen Phänotyp gab es natürlich schon immer. Neu ist, dass er zur Überlebensgröße aufsteigt und ganze Gesellschaften lenkt. Eggers Romanzukunft ist also eigentlich schon da.

In seinem Buch gibt es das klassische Finale aller Held/Heldin kommt in das Zentrum des Imperiums um es zu zerstören-Plots: Die direkte Konfrontation der Hauptfiguren, also Delaney Wells und Mae Holland allein in den Bergen mit zauberhafter Aussicht.

Und es gibt nur eine, die gewinnt.

Dave Eggers „Every“, 579 Seiten, Kiepenheuer & Witsch

Anmerkung: „Every“ kann natürlich bei Amazon erworben werden, selbstverständlich auch in der Buchhandlung. Potentielle Leser sollten sich von der fließenden Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht zu sehr verwirren lassen, sondern auf welchem Weg auch immer das Buch kaufen. Es gibt keinen Roman, der so sehr auf der Höhe der Gegenwart spielt.

19 Kommentare
  • Jörg Karkosch
    12. November, 2021

    Hallo Herr Wendt! Sie führen durch diese Apokalypse wie über einen kaum schützenden Pfad aus Steinen in der Brandung dieses zivilisatorischen Höllenfeuers.
    Es stimmt: …wer schon Diktatur und deren groteske, surreale, inhumane Agonie-Phase kennt, dem wir hier gleich wieder Angst und Bange.
    Jede Situation, jeder Tag kann sehr plötzlich die finale Entscheidung abnötigen, ob man sein selbstbestimmtes Leben beibehalten will und ob man dafür JETZT bereit ist, eben dieses Leben einzusetzen – final wahrscheinlich – ohne nennenswerte Aussicht darauf, daß Alles wieder gut wird.
    Diese Kranken haben wir derzeit schon zu Hauf unter uns. Der Propaganda-Exzess ist da und täglich Realität.
    Umgeben von Zombies.

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  • Immo Sennewald
    12. November, 2021

    Die Rezension ist hinreißend – Dank an Alexander Wendt – das Buch gewiss lesenswert, und ich wünsche ihm, in zahllose Sprache übersetzt zu werden, eine Milliarde Leser und dem Autor einen Platz auf dem Parnass. Trotzdem werde ich auf die Lektüre verzichten. «Zwar müssen noch ein paar Winkel der Welt gereinigt und perfektioniert werden. Aber grundsätzlich ist die Zukunft schon da. Die Macht liegt in den richtigen Händen.»
    DAS schau’ ich mir bis zum bitteren Ende selber an. Die Pointe ist zu kostbar. Ich bin’s mir schuldig, weil ich dem Sozialismus sein Scheitern auch in der furchteinflößenden Variante von Xi Jinpings China von Herzen gönne – den Politbürokraten, Konzernchefs und Medienhelden, die auf den Spuren von Marx, Lenin, Stalin, Mao… wandeln, ebenso. Die totale Sicherheit ist eben nur als totaler Stillstand, als Triumph von mechanischem, quantifizierendem Denken zu haben – und so als totales Chaos. Wollen wir wetten?

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  • Gotlandfahrer
    12. November, 2021

    Danke. Ich brauche aber Durchsagen wie «Brauner Bär», «Weisse Birke». Sowas.

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  • D. Preuß
    13. November, 2021

    Wahrscheinlich werden Dave Eggers Buch nicht Milliarden lesen, sondern, wie auch in Every angemerkt, werden viele das Buch mittendrin beiseitelegen, weil es zu viele Seiten hat (hier die laut Every höchstens noch zulässige von 579), zu viele, zu komplizierte Figuren bzw. Wörter enthält oder was immer die KI zu mäkeln findet.
    Zwar bin auch ich mir recht sicher, dass „die totale Sicherheit … eben nur als totaler Stillstand, als Triumph von mechanischem, quantifizierendem Denken zu haben (ist).» Aber halt auch, dass dank fehlender Diktaturerfahrung, niveaugesenktem Bildungssystem und Dressur durch die s.g. sozialen, asozialen und öffentlich-rechtlichen Medien, wirklich eine Mehrheit dies will, es zumindest akzeptiert und nicht „als totales Chaos“ empfinden wird.

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  • Claudia
    13. November, 2021

    Ein Beispiel für die angesprochenen schon real existierenden «safe spaces» sind die Verhaltensregeln («code of conduct») für akademische Konferenzen. Begründung: Teilnehmer sollen vor «Schäden» geschützt werden («This purpose of this code of conduct is to protect SIPS event participants from harm.»). Als untragbares Verhalten gelten u.a. unerbetene geschlechtliche Aufmerksamkeit, unerbetener körperlicher Kontakt und direkte oder indirekte Androhung von physischen Schäden («Unwelcome sexual attention; Unwelcome physical contact; Any real or implied threat of physical harm»). Wer die ganzen Regeln liest wird sich verwundert fragen, warum wissenschaftliche Konferenzen solche Regeln brauchen. Eine Regelung (man solle Redner nicht stören) wurde schon gebraucht, um kritische Nachfragen zu verhindern. Allein der Ausdruck «unwelcome» erfordert das Kaffeesatzlesen!

    Die Regeln im Original:
    http://improvingpsych.org/sipsinaction/code/

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  • Albert Schultheis
    13. November, 2021

    Lieber Herr Wendt, ich erlebe momentan eine Dystopie völlig anderer Art, sie ist gleichermaßen schrecklich, aber ihre Natur ist eine völlig andere – sie ist natürlich. Seit 2017 lebe ich auf der Vulkaninsel La Palma, in Europa, aber möglichst weit draußen im Atlantik und weg vom Wahnsinn Deutschland und Europa. Seit dem 19. September ist hier von einem auf den nächsten Tag alles anders geworden. Der Vulkan ohne Namen (in unserer Familie heißt er nur Smaug) war ausgebrochen – etwas, was wir Mitteleuropäer, und sogar die Palmeros selber, für eher hypothetisch gehalten hätten, für etwas, was einem im «normalen Leben» nicht begegnet.
    Es gibt hier auf unserer kleinen Insel im Prinzip alles, was es auch im kranken Herzen Europas gibt, in Berlin und Brüssel, so wie es in einem Mandelbrot-Fraktal kleinste «Apfelmännchen»-Figuren gibt, die alle Merkmale der riesigen «Apfelmännchen», dem sie angehören, in sich selber, en miniature, beinhalten. La Palma ist ein wahrer Mikrokosmos, komplett und konsistent in sich selber. Und da plötzlich zerreißt der Vulkan alle Gewissheiten, die gestern noch galten. Viele Familien verloren innerhalb der ersten Tage alles, was sie besaßen und konnten im wahrsten Sinn des Wortes nur noch ihre notdürftig bedeckte Haut retten. Alles, was ihnen an Dingen lag, woran sie ein Leben lang gearbeitet, gespart und gebaut, was sie gehegt und gepflegt hatten – befindet sich heute unter einem 10 – 40 m hohen Panzer aus Lava.
    Die sich spätestens seit 2015 anbahnende Katastrophe in Deutschland veranlasste mich, meine Solidarität mit Land und Leuten aufzukündigen und zu gehen – weil man davor mir persönlich gegenüber jegliche Solidarität, ja, das mindeste Verständnis oder auch nur die Duldung meiner abweichenden Meinung verweigert hatte. Ich war von heute auf morgen in meiner Heimat zum Aussätzigen geworden. Ganz anders die vulkanische Dystopie La Palmas! Sie veranlasst mich heute zu bleiben, mitzuhelfen, mitanzupacken und dem Terror des Vulkans ein Stück Menschlichkeit entgegenzusetzen – trotz, oder vielleicht gerade wegen der damit verbundenen Risiken – dem Abfallen aller gewohnten Sicherheiten. Dabei macht man Erfahrungen, die die großen fraktalen «Apfelmännchen», Berlin und Brüssel, niemals aufzubieten hätten: Begegnung, Freundschaft, Solidarität und … Authentizität.
    Keiner weiß, in welchem Zustand dieser Vulkan die kleine Insel zurücklassen wird, wenn er einmal aufgehört haben wird, die Bewohner der Insel zu terrorisieren, aber er trägt auch dazu bei, dass diese Insel auf ihre eigentümliche Weise mir zu einer neuen Heimat werden könnte.

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    • Immo Sennewald
      13. November, 2021

      Sie machen einem Hoffnung. Weiter so!

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    • Libkon
      15. November, 2021

      Nein, Herr Schultheis, der Vulkan «terrorisiert» nicht die Bewohner, vielmehr «lebt» er dort schon sehr, sehr lange, genauer gesagt: Er schlief. Nun ist er erwacht. Meine Frau und ich waren sehr oft auf unserer Lieblingsinsel Lanzarote, wo Vulkane (schlafend?) die Regel sind. Stets habe ich mir vorgestellt, was wohl passieren würde, wenn einer der Vulkane plötzlich erwachen würde. Chaos würde ausbrechen und Angst verbreiten. Ganz wie auf La Palma geschehen. Das ist die Kraft der Natur. Niemand kann sie bändigen. Aber man kann sich den dadurch ergebenen Problemen stellen, wie Sie es dort tun. Recht so. Hier in Deutschland wäre es vergebliche Liebesmüh.

      Denn hier haben wir es mit unberechenbaren Personen in politischen Ämtern zu tun, die nach Kräften versuchen, unser Deutschland nachhaltig zu beschädigen. Da wird mir ganz unheimlich zumute. Ich hoffe und wünsche Ihnen und allen Bewohnern von La Palma viel Glück und Zuversicht bei der Lösung des derzeitigen natürlichen Problems. Möge der Vulkan sich bald «beruhigen» und Sie dort in Frieden weiterleben dürfen.

      Bei unserem Aufenthalt von meiner Frau und mir in Taormina war der Ätna stets in Sichtweite und auf der Insel Stromboli betraten wir sogar einen aktiven Vulkan. Meine Frau und ich haben einen großen Respekt vor Naturgewalten wie z.B. vor Vulkanen. Wir sind in Gedanken bei Ihnen und allen anderen Bewohnern von La Palma.

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  • Dr. Wolf Manuel Schröter
    14. November, 2021

    Dank für diese Rezension, Herr Wendt.
    Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es Freiheit in Sicherheit theoretisch geben kann; das Verhältnis zwischen beiden ist mittels Maß und Vernunft herstellbar.
    Leider: Maß und Vernunft sind im Menschen nicht bis wenig angelegt und schon gar nicht im Menschheits-Cluster als additive Verknüpfung aller charakterlichen Eigenschaften der Menschen-Masse. So bleibt Freiheit in Sicherheit eine vage Sehnsucht einiger und wird also praktisch nichts werden: Solche Dystopien, wie die von Mr. Eggers, werden sein bzw. sind schon vorhanden und derart weit fortgeschritten, dass die Wenigen, Vernünftigen, bereits auf Freiheit verzichten, um ihre persönliche Sicherheit zu bewahren.
    Tragisch, weil sich Skrupellose Freiheiten nehmen und Sicherheiten nur für sich tatsächlich aufbauen werden; dabei spiegeln sie diese Zustände für die Vielen letztendlich nur vor.

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  • Werner Bläser
    14. November, 2021

    Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Als ich um 1970 zu studieren anfing, begannen ältere Studenten schon, uns liebevoll zu betreuen. Sie sagten uns, was wir lesen sollten (Karl Marx, gesammelte Werke: «das reicht – sonst braucht Ihr nichts!», sagte der ASTA-Vorsitzende allen Ernstes), und in welche Vorlesungen wir nicht gehen sollten.
    Damit wir das auch ja nicht missverstanden gab es dann gleich von «politisch bewusster» Seite die Sitzblockaden vor der Seminartür; wo das nicht reichte, kam das Rollkommando ins Seminar und störte während der ganzen Dauer mit Trillerpfeifen, Parolen-Rufen im Chor und dem Absingen der Internationalen. Missliebige Professoren wurden verbal niedergemacht und verleumdet. Selbst vor Lügen über deren Privatleben wurde nicht Halt gemacht. Ich erlebte eine universitäre Umwelt, wie sie Malcolm Bradbury in seinem genialen Roman «History Man» beschrieb (die gleichnamige BBC-Serie von 1981 wurde ausgerechnet noch an meiner alten Uni., Lancaster, gedreht).

    So bekam ich gleich mit, welche schöne neue Welt unsere damaligen Progressiven für uns vorgedacht hatten, und es hat mich fürs Leben geprägt. Seitdem hält sich meine Zuneigung für Menschen, die mir vorschreiben wollen, was ich zu denken habe, in extrem engen Grenzen – um es mal so zu sagen.
    Die Bereitwilligkeit vieler Menschen, sich anderen, auch und gerade anderen mit deutlich erkennbaren intellektuellen Defiziten, unterzuordnen, nötigt mir immer noch, so viele Jahre später, ungläubiges Staunen ab.
    Offensichtlich hat Pareto bei seinem «Residuum der Soziabilität» (soziale Gleichförmigkeit) und dem «Residuum der Integrität» (Sicherheit) Aspekte eines Triebs zur Unterwerfung gestreift. Hobbes hat sein ganzes Gedankengebäude auf Unterwerfung aus Sicherheitstrieb gebaut. Nietzsche erwähnt in der «Fröhlichen Wissenschaft» kurz einen Unterwerfungstrieb.
    Offensichtlich ist Unterwerfung oft auch eine Reduktion von Komplexität – man muss ja nicht mehr selber denken. Und in komplexen Zeiten mag die Versuchung dazu steigen (die meisten werden Luhmanns Arbeit dazu kennen – Bartosz Wilczek hat zum Thema 2017 eine interessante ökonomische Dissertation an der Uni. Lugano vorgelegt). Und wer sich selbst einem «Grösseren» unterwirft, hat schliesslich Teil an diesem Grossen (sei es eine Person, eine Gruppe, oder eine Idee) und erhöht sich damit selbst in der Unterwerfung (hier ist zu erinnern an Heinrich Manns grossartigen «Untertan»). Unterwerfung ist also statusfördernd.

    Aber es scheint mir offensichtlich, dass unterschiedliche Völker, oder sagen wir politisch korrekter, unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedlich empfinden und reagieren, wenn individuelle Freiheit bedroht ist. Was in Deutschland an Unterwerfung möglich ist, wäre zum Beispiel in der Schweiz, wo ich lebe, undenkbar. Hier hat man für Untertanenmentalität eine herzhafte Verachtung.

    Das ist einer der Gründe, warum ich nicht völlig pessimistisch hinsichtlich des Erfolgs/Misserfolgs der gegenwärtigen ‘Woke’-Sektiererei bin. Obwohl der Woke-Irrsinn aus den Universitäten der USA kommt, bin ich relativ zuversichtlich, dass die Mehrheit der Amerikaner aufgrund ihrer geistigen Traditionen einen relativ dicken Panzer gegen Einschränkungen der freien Rede, gegen Gängelung und gegen die Vorherrschaft von weltfremden, ideologisierenden «eggheads» hat.
    Erinnert sich jemand an James Carville, jenen Strategen der Demokraten, von dem das geflügelte Wort «it’s the economy, stupid!» stammt? Carville hat sich unlängst in einem von der Presse aufgegriffenen PBS-Interview zu einigen krachenden Wahlniederlagen der Demokratischen Partei (u.a. bei den Gouverneurswahlen in Virginia) geäussert:
    «What went wrong is just stupid wokeness… I mean, this ‘defund the police’ lunacy, this take Abraham Lincoln’s name off schools… some of these people need to go to a woke detox center or something…» (zit. nach ‘The Hill’, 3 Oct 21).
    Und schliesslich halte ich es für wahrscheinlich, dass die Leute irgendwann die Geistesverwandtschaft von woken Wahnsinnsideen wie dem Genderismus mit dem Kommunismus erkennen.
    2011 schrieb Lucetta Scaraffia im ‘Osservatore Romano’:
    «Die Genderideologie ist eine utopistische Idee fussend auf einer ähnlichen Idee des gescheiterten Kommunismus, dass die totale Gleichmacherei der Königsweg zum Glück sei. Abzustreiten dass ein Unterschied zwischen Frauen und Männern existiert erscheint als ein Mittel zur Erreichung der totalen und absoluten Gleichheit – und damit zum möglichen Glück der Menschheit» («La teoria del gender…», in: OR, 10 febbraio 2011, meine Übers.).
    In weiten Teile ist die Religion der modernen Woke-Sekte alter Wein in neuen Schläuchen, das wird noch unterstrichen durch die persönlichen Biographien vieler alter Linker, die vom Kommunismus zum Grünismus und zum Wokismus übergegangen sind.

    Was die «Rebellen» im von Herrn Wendt besprochenen Roman versuchen, scheint eine Art Sabotage eines Systems zu sein, indem man es auf die Spitze treibt. Nun neigen Ideologen generell dazu, ihre Ideologie auf die Spitze zu treiben. Wer in einer ideologischen Bewegung (egal ob links oder rechts) Karriere machen will, muss sich als besonders gläubig, und damit auch oft als besonders extrem, präsentieren. Das führt zu immer mehr, immer extensiverer Kontrolle des Einzelnen, schliesslich zum Totalitarismus. Helfen tun dabei bürokratische Strukturen, die sich, Parkinsons Gesetz folgend, in jede Nische menschlichen Lebens ausdehnen wollen, um ihre Kompetenzen zu erweitern.

    Aber auch wenn Unterwerfung bequem und Freiheit oft unbequem ist, es scheint einen Kipp-Punkt zu geben, ab dem mit Unterwerfung nicht mehr ein Mehr an Sicherheit und ein Weniger an Komplexität verbunden ist, sondern das Umgekehrte.
    Je mehr Vorschriften es gibt, desto wahrscheinlicher wird es, dass man wissentlich oder aus Nachlässigkeit oder Nonchalance dagegen verstösst und sanktioniert wird. Und je mehr Vorschriften es gibt, desto komplexer wird natürlich auch das Leben. Der Anthropologe Alfred Kroeber erfand dazu – am Beispiel des freiwillig aufgegebenen Tabu-Systems im vorkolonialen Hawaii – den Terminus der «cultural fatigue».

    Vulgäranthropologisch formuliert: Irgendwann gehen einem die vielen Ge- und Verbote so auf den Sack, dass man sie und ihre Erfinder und Wächter zum Teufel wünscht.
    Das erhoffe ich mir auch irgendwann für unseren gegenwärtigen allgegenwärtigen Wahnsinn.

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    • Jochen Schmidt
      15. November, 2021

      Wieder viele interessante Hinweise von Ihnen! Auch Ihr Verweis auf Bartosz Wilczek ist hilfreich. Danke!

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    • Werner Bläser
      15. November, 2021

      Habe gerade gelesen, dass in Texas jetzt die erste ‘woke’-freie Universität entstehen soll. Eine Reise von tausend Meilen beginnt eben mit dem ersten Schritt (Lao-tse).

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  • Materonow
    15. November, 2021

    In seinem schmalen Band «Hitler als Vorläufer» schrieb schon Carl Amery von einem Planetmanager, der über alles herrscht.
    Lesenswertes Buch; auch heute noch!

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  • A. Iehsenhain
    15. November, 2021

    Bestes aktuelles Beispiel für die Fragilität eines «Every»-Herrenmenschen ist neben ähnlichen Prototypen wie den genannten Neubauer oder Thunberg die schon oftmals ‘gewürdigte’ Mai Thi Nguyen-Kim, die jüngst mit einem mysteriösen Torwart-Vergleich den allgemeinen Impfzwang propagierte. Aus dem Originalwortlaut (Quelle: RND) von Mae Thi Nguyen-Kim Holland: ‘Wer gegen Corona geimpfte Personen auf der Intensivstation als Argument gegen Impfungen heranziehe, müsse sich auch gegen Sicherheitsgurte aussprechen. Denn 99 Prozent der schwerverletzten Unfallopfer seien angeschnallt gewesen. „Flügel von Flugzeugen bringen nichts, denn bei 99 Prozent der Flugzeugabstürze waren vorher noch beide Flügel an“, nennt Nguyen-Kim einen weiteren Vergleich. „Torwarte nützen nichts, denn bei 99 Prozent der Tore war ein Torwart da. Selbe Logik“, sagt die Wissenschaftlerin.’ Soweit eine Vorlesung in Chemie, wie sie wahrscheinlich im Legoland Günzburg stattfindet – eventuell eine künftige Deutschlandzentrale für die Scrabbler der Neuen Normalität. Andererseits beschwerte sich Schneeflöckchen Kim bereits dieses Jahr über Hass und jammerte: «Ich gehe nirgendwo mehr hin ohne persönliche Security!» Sollte mit ihrer Forderung („Impflicht ist OK“) ernst gemacht werden, dürfte sie dann aber ein römisches Heer benötigen, das eine Schildkröte um sie formiert. Überhaupt – vielleicht sollte man sich gegenwärtig eh mal die Aktienkurse von Security-Unternehmen (sofern notiert) anschauen und darin investieren; wäre nicht verwunderlich, wenn die bei den derzeitigen verbalen Mutproben der hinlänglich bekannten Einpeitscher gerade hochschießen würden. Ich habe mir Eggers’ «Every» noch nicht zugelegt, sollte es aber wohl alsbald tun, bevor es noch verboten wird…

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  • pantau
    16. November, 2021

    Lieben Dank für diesen offenherzigen Bericht, Herr Schultheis.

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  • pantau
    16. November, 2021

    Vielen herzlichen Dank für Ihre Literaturempfehlung, Herr Wendt. Bei der neuseeländischen Politikerin ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. Ich teile Ihre Auffassung, daß er einen Gegenwartsroman geschrieben hat.

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  • Claudia
    16. November, 2021

    «Als ich um 1970 zu studieren anfing, begannen ältere Studenten schon, uns liebevoll zu betreuen…». Man sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass die «älteren Studenten» gut geschult (finanziert) waren: Wenn ich es richtig erinnere, gab es die linken Konkurrenten Marxistischer Hochschulbund (Sponsor China), Kommunistischer Hochschulbund (Sponsor UdSSR) und Sozialistischer Hochschulbund (Sponsor DDR). Vielleicht erinnere ich die Zuordnung falsch; jedenfalls hatten wir «Ungeschulten» wenig Chancen, dagegenzuhalten.

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  • Leonore
    17. November, 2021

    Herzlichen Dank an den Autor des Artikels und die Leserbriefschreiber, die wieder mal das Ihre beigetragen haben.

    Mein Scherflein: Zu Ihrem «Der Roman ähnelt auch darin Houellebecqs „Unterwerfung“, dass es sich um ein überragendes Buch handelt, aber nicht um überragende Literatur. Die stünde auch der Geschichte im Weg, die er dringend mitteilen muss», ist mir die letzt(?)jährige Nobelpreisträgerin für Literatur eingefallen, Margret Atwood. Auf deren Trilogie MADADDAM treffen Ihre klugen Sätze genauso zu. Für ihre Schreibe, die von sehr schwankender Qualität ist und überhaupt Mankos aufweist (wie kann man z.B. nur mit der genauen Beschreibung des Äußeren eines Haupt-Protagonisten bis zum Schluß einer gut 1 500 -Seiten Trilogie warten? Der Leser hat sich inzwischen längst ein eigenes Bild gemacht…) hätte ich ihr keinen Literatur-Nobelpreis zuerkannt. Für ihren politischen Instinkt und ihre Fähigkeit, diesen für höchst spannende Romane zu nutzen, jedoch schon.

    Da es in diesem Werk um die akribisch geplante Freisetzung einer Seuche zwecks Verbesserung der Schöpfung durch intrinsische Verhinderung von Leid/Bösem sowie der Rettung des Planeten geht, könnte das Buch natürlich bald eingestampft und ihr der Nobelpreis wieder aberkannt werden.

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  • Christoph N.
    30. November, 2021

    Wenn Eggers Romanzukunft (eigentlich) schon da ist und immer Sicherheit im Zentrum der Argumentation steht, aus der folgt, dass dann alles, was jemanden irritieren könnte und die Reinheit stört, eliminiert werden muss, dann ließe sich diese Schlussfolgerung doch auch auf die Zukunftsaussichten des ungeimpften Bevölkerungsteils anwenden.

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Original: Die Kubatur des Kreises

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