Das magische Sprechen schafft Macht – für den Augenblick
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Der Gründer der kollabierten Krypto-Plattform FTX Sam Bankman-Fried muss für 25 Jahre ins Gefängnis. Zwischen seiner Karriere und dem Aufstieg der Erwachten an Universitäten und Medien gibt es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 11 min Lesezeit
Am Donnerstag verkündete Bundesrichter Lewis Kaplan in New York das Strafmaß für Sam Bankman-Fried, den Gründer der kollabierten Kryptowährungs-Plattform FTX. Der 32-jährige Unternehmer, dem viele Bewunderer damals magische Fähigkeiten zutrauten, muss wegen Betrugs und zahlreicher anderer Delikte für 25 Jahre ins Gefängnis.
Damit blieb das Gericht noch unter den Vorstellungen der Staatsanwaltschaft, die 40 Jahre gefordert hatte. Der Zusammenbruch von FTX im Jahr 2022 gehört zu den großen Bankrott- und Wertvernichtungsfällen der amerikanischen Geschichte. Im Rückblick wirkt der lange Aufstieg des Wundertäters interessanter als sein schnelles Ende. Bei Bankman-Fried handelt es sich um eine herausragende, aber nicht singuläre Erscheinung im Neokapitalismus: ein Unternehmer, der vorübergehend Milliarden nur durch sein Talent schöpft, eine bestimmte Geschichte zu erzählen.
Wer die Frage stellt, was eigentlich die Gründer großer Technologieplattformen mit der Bewegung der Erwachten verbindet, die von Universitäten über Medien und Politik heute die Sinnproduktion im Westen beherrschen, der findet hier nicht die alleserklärende, aber eine von mehreren Antworten: Die Macht der richtig eingesetzten Erzählung spielt hier wie dort eine entscheidende Rolle. Das Buch „Verachtung nach unten“ widmet dem Phänomen Bankman-Fried und ähnlichen Schöpfern von fantastischem Reichtum eine Passage.
Publico veröffentlicht den folgenden Auszug leicht angepasst und gekürzt.
Es existiert neben vielen anderen Ähnlichkeiten zwischen der Welt der Unternehmer und der Sinnproduktion auch eine sehr spezielle Wahlverwandtschaft zwischen den Wohlgesinnten und einem relativ neuen Typus unter den Gründern und Managern großer Unternehmensplattformen, der heute eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Die Überzeugung, alles könnte prinzipiell durch Sprechakte geschaffen und umdefiniert werden, durchzieht das gesamte neoprogressive Gedankengebäude – aber eben auch erstaunlich große Teile des Neokapitalismus, in dem tatsächlich ab und zu Milliardenwerte durch symbolische Handlungen und Narrative entstehen. Niemals in der Geschichte stiegen Firmen derart steil auf, deren Schöpfer nichts besaßen außer einer erfolgreichen strategischen Erzählung.
Mit ihren Auftritten, ihrer Stilisierung zum weiblichen Steve Jobs mit schwarzem Rollkragenpullover, tiefer Stimme und ihrer Behauptung, ein Wunderwerk erfunden zu haben, schaffte es Elizabeth Holmes in Kalifornien nicht nur, Hunderte Millionen Investorengelder für ihr Unternehmen Theranos einzuwerben. Ihr gelang auch das wirkliche Kunststück, ihre Firma – oder besser deren Fata Morgana, denn es besaß nie ein vermarktungsfähiges Produkt – fünf Jahre lang aufrechtzuerhalten. An sie und ihr imaginäres Blutanalysegerät, das angeblich aus einem Tropfen Hunderte Diagnosen lesen konnte, also eine Art Thermomix der Labormedizin, wollten sehr viele Geldgeber und Medienleute glauben. Journalisten, selbst Investoren scheuten sich jahrelang, Holmes mit Detailfragen zuzusetzen. Auch deshalb, weil sie bei ihren Séancen die Drohung mitschwingen ließ, wer sie nicht ernst nehme, sei höchstwahrscheinlich ein frauenfeindlicher Sexist.
Sam Bankman-Fried, ehemals Eigentümer der Kryptobörse FTX, gelang es mit seiner Erscheinung als lockenköpfiger Gründer in T-Shirt und Cargohosen, der seine Geschäftszentrale in einer Villa auf den Bermudas unterhielt, die Aura des überbegabten Jugendlichen zu erzeugen, den es noch nicht einmal große Mühe kostet, in kürzester Zeit ein mit 32 Milliarden Dollar bewertetes Unternehmen zu schaffen. Mit der gleichen Zielstrebigkeit arbeitete er auch an seinem öffentlichen Bild als Unternehmer einer völlig neuen Sorte, der sein Geld hauptsächlich verdient, um es weiterzugeben, als Entrepreneur, der nicht nur eine Finanzplattform aufbaut, sondern gleich den Kapitalismus der Zukunft.
Durch seine in der Tat großzügigen Spenden und Spendenversprechen wirkte Bankman-Fried halb wie ein moderner Midas, der Reichtum durch magische Berührung erzeugt, halb wie ein neuer Maecenas, der mit vollen Händen gibt. Dieses Bild bewog Anleger, ihm große Mengen an Kryptowährungen zu überlassen, ohne allzu genau nach seinem Geschäftsmodell zu fragen. Bankman-Frieds Imperium funktionierte tatsächlich nach dem Prinzip, Geld einzunehmen und weiterzugeben. Nur etwas anders, als seine Klienten dachten. Die anvertrauten Kryptomilliarden schleuste er heimlich von FTX an seine Firma Alameda Research, geleitet von seiner damaligen Freundin. Das abgezweigte Geld floss von dort in ziemlich riskante Spekulationen. Als große Kryptobörsen weltweit wackelten und FTX- Kunden ihre Einlagen zurückverlangten, konnte die Plattform nicht zahlen. Denn wie sich herausstellte – so jedenfalls steht es in den sichergestellten Unterlagen – wettete Alameda mit dem Kundengeld nicht erfolgreich. Die Kundschaft von FTX starrte in einen Krater, der Kryptos im Wert von acht Milliarden Dollar verschluckt hatte. Vor Gericht räumte Bankman-Fried zwar systematische Täuschung ein, trug aber zu seiner Verteidigung vor, er habe das Kundengeld heimlich vermehren wollen, um damit die größten Probleme der Welt zu lösen oder wenigstens zu lindern. Der Richter erklärte ihm, auch ein Bankräuber, der mit seiner Beute Lotterie spiele, um den Gewinn dann für karitative Zwecke zu spenden, bleibe trotz dieser wohltätigen Absicht ein Bankräuber. Und es schlage noch einmal deutlich zu seinen Ungunsten aus, wenn sich dann noch nicht einmal der Lotteriegewinn einstellen würde. Der gleiche Richter fragte Bankman-Fried auch, ob er glaube, das Talent zum Erzählen von guten Geschichten zu besitzen. Worauf der Angeklagte antwortete: »Kommt darauf an, woran Sie das messen.«
Adam Neumann überragte als Wunderkind und Schöpfer aus dem Beinahe-Nichts Holmes und Bankman-Fried noch um mehrere Klassen. Er gründete 2010 den Konzern WeWork, der mit seinem Angebot perfekt in die neue disruptive Welt passte. Seine Idee bestand darin, Bürogebäude in der ganzen Welt in kleinste Arbeitsparzellen aufzuteilen, um sie als Büros an eine neue Klasse von kognitiven Wanderarbeitern zu vermieten. Als Idealkunde stellte sich WeWork einen IT-Experten ohne Orts- und Sozialbindung vor, der heute in Seattle einen Auftrag erledigt, im nächsten Monat in Shanghai, um dann mit seinem Rollkoffer zum Flughafen zu fahren, weil das nächstes Projekt in Berlin wartet. WeWork wollte ihm überall die gleiche standardisierte Arbeitsatmosphäre bieten. Nach kurzer Zeit verfügte der Konzern über 779 Bürogebäude in 39 Ländern; kurz vor dem geplanten Börsengang 2019 lag der taxierte Wert des Unternehmens bei 47 Milliarden Dollar. In diesen Monaten galt Neumann als heißester Kandidat für eine welthistorisch noch nie besetzte Rolle: die des ersten Dollar-Billionärs. Die ziemlich schlichte und dazu riskante Geschäftsidee, langfristige Immobilien-Leasingverträge durch kurzfristige Vermietung zu finanzieren, hätte ohne die Aura des Gründers nie zu dieser fantastischen Bewertung geführt. Neumann wollte mit seinem schulterlangen Haar, seiner Jeans-T-Shirt-Kleidung und seinen Reden im Prophetenstil eben nicht wie ein Massenvermieter moderner Bienenstöcke wirken, sondern wie ein Religionsstifter. In seiner Firmenzentrale pflegte er barfuß herumzulaufen, seinen Mitarbeitern verbot er, am Arbeitsplatz Fleisch zu essen. Er zog weltweite Aufmerksamkeit auf sich, als er versprach, eine Milliarde Dollar, die er noch gar nicht verdient hatte, für karitative Zwecke zu spenden, außerdem 20 Millionen Dollar zur Rettung des tropischen Regenwalds. Ein typischer Neumann-Satz lautete: »Wir sind ein als Gemeinschaft angelegtes Unternehmen, das eine maximale globale Wirkung anstrebt.« Den Konzernnamen änderte er in »We«, womit er den Eindruck erzeugte, bei der Bürovermietung würde es sich nur um den ersten kleinen Teil eines sehr viel umfassenderen Plans handeln. In Neumanns Worten: »Die Energie des Wir, größer als jeder von uns, aber im Inneren von uns allen.« Offenbar besaß er hypnotische Überzeugungskräfte; angeblich dauerte sein erstes Treffen mit dem Vorstandsvorsitzenden der japanischen Softbank, die WeWork fortan finanzierte, weniger als 30 Minuten.
WeWork erwirtschaftete nie auch nur einen Dollar Gewinn. Es musste seinen Börsengang 2019 absagen, als sich herausstellte, dass Neumann privat an etlichen Gebäuden beteiligt war, die der Konzern von ihm leaste und zusätzlich von seinem Unternehmen umfangreiche Kredite erhalten hatte. Das Management räumte kurz vor dem geplanten Börsengang ein, Gewinne seien auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Zum Schluss verbuchte Neumanns Wunderwerk einen Verlust von 1,9 Milliarden Dollar bei einem Umsatz von 1,8 Milliarden. Im Herbst 2023 erklärte sich das große We ohne Work für bankrott.
Holmes besaß nie ihr magisches Gerät, Bankman-Fried nie eine Kryptobörse, sondern im Grunde nur eine Art Durchreiche für das Geld anderer Leute, Neumann nie eine solide Geschäftsidee. Aber alle drei verfügten über ein ausgeprägtes Sensorium für gesellschaftliche Erwartungen. Die Sehnsucht nach einer weiblichen, feministischen Steve-Jobs-Figur gab es in den Medien vor Theranos, die Suche nach dem Finanzmagier, der auch auf magische Weise die Welt von Problemen kuriert, vor FTX, die Erwartung des spendablen Supermilliardärs, der sein Unternehmen als große Gemeinschaft betrachtet, in der er seine Mitarbeiter zu besseren Menschen erzieht, vor WeWork. Abstrakt existierten die Rollen schon. Holmes, Bankman-Fried und Neumann mussten nur noch hineinschlüpfen. Ihre Beispiele legen es nahe, neben dem Monopolkapitalismus, dem Cronyismus und dem woken Kapitalismus noch eine vierte Kategorie einzuführen, die des Narrativkapitalismus. Gut möglich, dass keiner aus dem Trio die Verwandtschaft zu der fächerübergreifenden akademischen Lehre erkennt, alles sei Konstrukt, alles Dingliche würde durch Worte und Sichtweisen überhaupt erst hervorgebracht. Vielleicht fällt es ihnen auch nicht auf, dass es sich hier wie dort um eine innerweltliche Religion handelt, ein Glaubenssystem ohne Gott. Oder besser: mit übermenschlichen Figuren, die für sich in Anspruch nehmen, aus dem Nichts zu schöpfen. Wer sich so sieht, drängt notwendigerweise zur Seite, was Religion eigentlich ausmacht, die Rückbindung, die Bescheidenheit angesichts einer höheren Macht. Ein weltlicher Gott kann mit Transzendenz nichts anfangen.
Magisches Denken durchdringt die Bewegung der Regressiv-Progressiven, es besitzt auch eine beachtliche und immer noch wachsende Macht in dem mutierten Kapitalismus, nicht nur bei den beschriebenen Milliardenschöpfern, sondern auch in den Investmentbanken oder bei den staatlichen Partnern großer Pharmafirmen, die ihnen für fantastische Summen kaum getestete Impfstoffe mit zweifelhafter Wirkung abkauften, um dann Hunderte Millionen Dosen davon auf den Müll zu werfen. Beide Seiten, die Erwachten an den Universitäten wie die Zauberer des crony capitalism und des Narrativkapitalismus, gleichen einander nach den Worten von Giuliano da Empoli auch in ihrer Hybris, »dass sie eine Welt nach ihrem eigenen Bild und ihrem Aussehen erschaffen, die sie vollkommen gleichgültig gegenüber den politischen und sozialen Folgen ihres Handelns macht«.
Aus: Alexander Wendt „Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können“ www.alexander-wendt.com
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
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Original: Das magische Sprechen schafft Macht – für den Augenblick
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Werner Bläser
30. März, 2024«… aus dem Nichts schöpfen».
Ich habe den Soziologieklassiker «The Social Construction of Reality» von Berger und Luckmann (hg. 1966) bewundert, teilweise sogar noch bei Luckmann studiert. Aber die beiden hätten ihr Buch mit Sicherheit anders geschrieben, hätten sie gewusst, wie irgendwelche übergeschnappten Zauberlehrlinge ihre Beobachtungen verballhornen würden. Das Buch ist unglücklicherweise eine der Grundlagen der woken Spinnereien geworden, von der Phantasterei von x Geschlechtern bis zur willkürlichen Definition von allen möglichen «strukturellen -ismen».
Seitdem ist es Mode geworden, «Narrative» an die Stelle von nachweisbarer Realität zu setzten.
Von dem vor einigen Jahren verstorbenen Luckmann findet sich auf Youtube noch ein Video, auf dem er sich gegen seine Verfälscher verwahrt («50 Anniversary Social Construction Thomas Luckmann»). Ich zitiere:
«Social constructivism… it may refer… to the building, to the construction of a house… But the idea that some so-called social constructivists have is that you can make houses without bricks – that this is a sort of autopoietic* exercise in thin air. I CONSIDER THIS TOTAL NONSENSE»
(etwa ab Minute 5.10, Hvhg. von mir; «autopoietic» meint ein in sich abgeschlossenes, unabhängiges System, dass seine eigenen Strukturen und Bausteine produziert).
– Wenn man sich die theoretischen Grundlagen von woker Rassentheorie, Gender und ähnlichem Unsinn anliest, dann sticht immer nur eins ins Auge: die handwerklich-intellektuelle Minderwertigkeit dieser Luftschlösser.
Weitaus interessanter als die konstituierende Literatur zu diesem Quatsch wäre eine soziologische Studie, die beleuchtet, WARUM solcher Unfug in unseren Gesellschaften diesen Erfolg hat.
Werner Bläser
31. März, 2024Filmtipp: «Club Zero». Hier bringt eine durchideologisierte Lehrerin ihre Schüler dazu, zu glauben, Nahrungsaufnahme sei nur eine soziale Gewohnheit, keine Notwendigkeit. Eine schöne Parabel auf die Durchgeknallten dieser Welt, die glauben, die Welt nach ihrer Fantasie interpretieren zu können.
Pauline
31. März, 2024Ausgezeichneter Artikel, ein Augenöffner.
Jürg Rückert
1. April, 2024Dann werden euch die Augen aufgehen, und ihr werdet reich sein!
Das Wecken der Gier nach Geld wird über die Jahrhunderte immer wieder Augen öffnen, … wenn es zu spät ist.
Collodi beschrieb in seinem Pinocchio, wie der Hampelmann von Katze und Fuchs überlistet seine Goldstücke auf dem Wunderfeld vergräbt. Dort soll sich dann ein Bäumchen mit vielen Goldstücken erheben. Als der Beraubte dann in Dummersheim bei Richter Gorillius Klage wegen des Diebstahls erhebt, spricht dieser sogleich sein Urteil: «Diesem armen Hampele hat man sein Gold gestohlen. Nehmt es also und werft es in das Gefängnis.» Letzteres ist bei uns noch unwahrscheinlich, in anderen Ländern nicht.