Publico Lesezeit:
Bücher für lange Winterabende
Original post is here eklausmeier.goip.de/wendt/2023/12-publico-lesezeitbuecher-fuer-lange-winterabende.
Von Alexander Wendt / / spreu-weizen / 26 min Lesezeit
Der kalendarische Winter beginnt gerade. Politisch kommt eine Zeit des gesteigerten Missvergnügens, dazu gibt es feuchte Kälte an kurzen Tagen. Andererseits, lange Abende lassen sich mit guten Büchern auch behaglich einrichten. Publico gibt wie jedes Jahr Empfehlungen – neue Bücher von 2023 und (Wieder)entdeckungen aus dem großen Literaturfundus der Vergangenheit.
Die Redaktion wünscht ein friedliches Fest – und lange, angenehme Lesestunden.
Immer hinein ins Wespennest
Michael Klonovsky kennt in „Rote Linien“ keine problematischen Fragen. Und keine moralischen Antworten
Für den Autor Michael Klonovsky gilt vermutlich eine sehr einfache Regel: Er schaut, an welchen Knöpfen die Warnung „bitte nicht drücken“ steht, um sie beharrlich zu bearbeiten, er sucht nach roten Linien, um sie zu überschreiten, kurzum, er versteht Abstandsgebote zu bestimmten Themen als ausdrückliche Einladung. Wenn ein Wächter sagt: ‘Wir haben uns dabei schon etwas gedacht‘, lautet seine Antwort: ‘Ich aber auch‘.
Der Essayband „Rote Linien“ entstand aus Podcast-Vorträgen, die Klonovsky über die Plattform Gettr sendete. Dass es schade gewesen wäre, sie nur im Bereich des gesprochenen Wortes zu lassen, zeigt der vorliegende Band. Denn wie komplex und haltbar Gedankengänge daherkommen, zeigt sich erst in Textform. Versammelt in einem Band bieten sie außerdem eine Gesamtschau. Bei allen Unterschieden ergeben die Themen der Texte ein größeres Bild: Mit seiner Linienmissachtung zeigt der Autor, wie eng diese Grenzziehungen heute verlaufen. Der Essay „Es gibt nur zwei Geschlechter“ gibt im Wesentlichen Grundlagen der real existierenden Biologie wieder. Seine Kernaussage gilt manchen Meldeportalbetreibern schon als verwirklichte Hassrede. Jedenfalls nahm eins der staatlich finanzieren „Berliner Register“ – ein hübscher Name übrigens – die Biologin Marie-Luise Vollbrecht schon wegen Verbreitung dieser Nichtirrlehre als Problemfall auf. Ganz ähnliches gilt für Michael Klonovskys Antwort auf die Frage „Gibt es ein deutsches Volk?“. Das Grundgesetz und einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts sagen: Ja. Für das Meinungskonglomerat aus großen Teilen der Grünen, der öffentlich-rechtlichen Medien und diversen staatlich finanzierten Zivilgesellschaftern steht jemand, der diese Ansicht vertritt, schon knietief im völkischen Sumpf.
In seiner nächsten Nachforschung möchte er wissen: „Wie sozialistisch waren die Nationalsozialisten?“ Gerade hier gibt es ja wirklich Gründe, nicht nur rote Linien zu ziehen, sondern Sperranlagen zu errichten, die in ihrem Aufwand an den antinationalsozialistischen antifaschistischen Schutzwall erinnern.
Den dichtesten Minengürtel durchquert er allerding mit der Frage: „Verübten die deutschen Kolonialtruppen tatsächlich einen Völkermord an den Herero?“. Bekanntlich legte der Bundestag fest, dass deutsche Schutztruppen in Namibia 1904 einen Völkermord an den aufständischen Herero und Nama begingen; im Jahr 2015 ernannte die Regierung den früheren CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz zum „Vertreter der Bundesregierung im Dialog um den Völkermord mit Namibia“. Polenz wiederum erklärte, es gehe nicht um eine Rechtsfrage, «sondern um eine politisch-moralische». Dass es erst einmal eine historische geben könnte und müsste, erwähnte er gar nicht erst. Nach längeren Verhandlungen überwiegend mit Funktionären der allein regierenden namibischen Staatspartei, die weder mit den Herero noch den Nama sonderlich viel zu tun hat, flossen schließlich 1,1 Milliarden Euro. Klonovsky tastet also eine regierungsamtliche Wahrheit an. Die Behauptung, die deutschen Truppen hätten in Deutsch-Südwestafrika damals ein Genozid begangen, geht auf den DDR-Historiker Horst Drechsler zurück, der die Völkermordthese in seine Betrachtung des „deutschen Imperialismus“ einbettete und seinerzeit eine Auftragsarbeit mit fertiger Ausgangsthese ablieferte. In der Bundesrepublik sorgte dann vor allem der Hamburger Kolonialhistoriker und Vertreter der Postcolonial-Lehre Jürgen Zimmerer für die Verbreitung des Genozidvorwurfs.
Dieser Vorwurf stützt sich auf zweierlei: Die viel zitierte Proklamation des Anführers der deutschen Truppen Lothar von Trotha nach der Schlacht am Waterberg, er nehme keine Gefangenen mehr auf, auch keine Frauen und Kinder, sondern lasse sie in die Omaheke-Wüste treiben. Und auf einen Generalstabsvermerk aus Berlin, in dem von der „Vernichtung des Herero-Volks“ durch die wasserlose Wüste die Rede ist. Der Verfasser der „Roten Linien“ zitiert die Quellen selbstverständlich. Seine Beweisaufnahme beginnt damit allerdings erst. Er sortiert vor allem die Vorgänge zeitlich. Schon das trägt sehr viel zum Verständnis bei. Das entscheidende Gefecht am Waterberg, das längst nicht so glanzvoll für die deutschen Truppen verlief, wie Trotha es seine Vorgesetzten in Berlin hatte glauben machen wollen, fand am 11. August 1904 statt. In den heftigen Kämpfen mit 26 Toten und 60 Verwundeten auf deutscher und einer unbekannten Opferzahl auf der Herero-Seite gelang es von Trotha nicht, seinen Gegner einzuschließen. Stattdessen zogen sich die Herero unter Führung von Samuel Maharero in die Omaheke zurück, ein Trockengebiet mit Wasserstellen, das die Herero kannten und vielfach durchquert hatten. Am 19. September, so vermerkt es der Chronist in „Rote Linien“, notierte von Trotha in sein Kriegstagebuch: „Wo sind die Herero geblieben?“ Und am 30. September: „Verfolgen tue ich sie nicht mehr. Basta.“
Den Entschluss, ihnen nicht nachzusetzen, fasste der Befehlshaber nicht aus Milde, sondern aus Not. „Am 1. Oktober hatten die Deutschen alle Vorräte aufgebraucht“, heißt es bei Klonovsky, „ Typhus und Ruhr dezimierte die Truppe immer mehr. An diesem Tag starb der siebenundzwanzigste Offizier im Verlauf des Feldzugs. Pferde und Zugochsen gingen massenhaft ein, die Nachschubversorgung funktionierte kaum noch. An ein Weitermarschieren war nicht mehr zu denken. In dieser Lage erst fabrizierte von Trotha seine berüchtigte ‘Proklamation an das Volk der Herero‘!“ Anschließend zog er sich Richtung Windhuk zurück.
Neben der zeitlichen Ordnung, die verdeutlicht, dass von Trothas martialisches Schreiben der Verschleierung seiner Schwäche diente, stellt der Autor auch notwendige Sachfragen. Vor allem die, wie Trothas durch Krankheiten ausgedünnte Truppe überhaupt ein Wüstengebiet von der Größe Österreichs hätten abriegeln sollen. Am Waterberg standen ihm 1392 Soldaten und Offiziere zur Verfügung. Selbst mit dieser unversehrten Mannschaft hätte er unmöglich eine angeblich 250 Kilometer lange Sperrkette besetzen können. Und auch die hätte nicht genügt, um die Omaheke abzuriegeln.
Das Fazit Klonovskys lautet, die Niederschlagung des Herero-Aufstandes sei fraglos grausam verlaufen, insbesondere die anschließende Internierung von Zivilisten und Kriegsgefangenen. Aber ein Genozid fand damals eben nicht statt. Für seinen Essay greift er neben zeitgenössischen Quellen auch auf die Forschungen von Hinrich R. Schneider-Waterberg zurück, einen kundigen Hobbyhistoriker mit Wohnsitz in Namibia, der umfangreiche Recherchen zu dem Feldzug des Jahres 1904 betrieb. Dessen Sicht fand schon Eingang in einen Spiegel-Artikel von Bartholomäus Grill im Jahr 2016 – ein Text, der so in dem Hamburger Magazin heute vermutlich nicht mehr erscheinen würde.
Unmittelbar nach dieser Publikation fielen die Völkermord-Verfechter sowohl über Grill als auch Schneider-Waterberg her, allerdings ohne deren Einwände zu widerlegen. Michael Klonovskys Text zu dem Thema behandelt dieses Milieu vermutlich mit eisernem Schweigen. Dabei könnte jetzt, nach Abarbeitung aller moralischen, politischen und finanziellen Fragen eigentlich die unbeschwerte historisch-faktische Debatte beginnen.
Hier wie in den anderen Texten betätigt sich der Autor nicht agitatorisch. Er lädt dazu ein, sich mit seinen Argumenten zu befassen, drängt sie aber nicht auf. Vermutlich macht er gerade damit seine Gegner so fuchtig. Seine Leser dürften dagegen schätzen, dass er keine Frage, die er in „Rote Linien“ stellt, durch Moralisierung erledigt.
_Manuscriptum, 24 Euro, 216 Seiten_
,Woke ist es auch anderswo
Iddo Netanyahu schreibt eine Satire auf die progressiven Kulturbetriebsnudeln. Sein Roman spielt zwar in Israel – das Personal kommt uns aber sehr bekannt vor
Wer den Romanautor Iddo Netanyahu noch nicht kennt, braucht keine Bildungslücke zu befürchten. Der Bruder des israelischen Ministerpräsidenten schreibt zwar schon seit langem Dramen, Erzählungen und Sachbücher, bisher erschien allerdings nichts davon in deutscher Übersetzung. Mit dem Roman „Itamar K.“ gelangt der erste Text von ihm in den deutschen Buchhandel, übertragen von Artur Abramovych. Obwohl die Satire in Israel spielt, kommen den hiesigen Lesern Figuren und Themen sehr vertraut vor. Denn im Kulturbetrieb, den Netanyahu in seinem Roman schreibend demontiert, geht es am Mittelmeer genauso wohlmeinend, erwacht und haltungsstark zu wie in Westeuropa. Mit Itamar K. schickt Netanyahu einen modernen tumben Toren auf eine Erfahrungsreise durch diese spezielle Welt, einen jungen Mann, den es nach seinem Studium an der Juilliard School in New York wieder nach Israel zieht, um dort einen Film über den von ihm verehrten Sänger Shaul Melamed zu drehen. Damit sucht er sich schon einmal den falschen Protagonisten aus, denn Melamed brachte zu Lebzeiten mit seinen politischen Ansichten die gesamte Kulturwokeria Israels gegen sich auf. Zu allem Überfluss spielte er auch noch vor jüdischen Siedlern im Westjordanland, galt also als unrettbar rechts, was ihn auch nach seinem Tod unwürdig für eine positive Filmrolle macht. Aber vielleicht, sagen sich die Kulturprofis, als Itamar Koller ihnen seine Idee vorträgt, lässt sich ja eine abstoßende und groteske Figur aus dem Barden machen? Also verlangen sie von Itamar K., einiges am Drehbuch zu streichen und dafür neues hinzuzudichten. Melamed, schlägt einer der beiden Regisseure beispielsweise vor, sollte im Film seinen Konzertflügel per Traktor durch die Wüste transportieren. Denn dieser Flügel sei „ein Symbol für die westliche Kultur“, für „kulturelle Expansionsbestrebungen und in der „Umgebung genauso fremd wie die Häuser der jüdischen Siedler“.
Itamar K. hofft, seine ursprüngliche Filmidee noch irgendwie retten zu können. Für diese Aussicht lässt er sich immer tiefer in die Absurditäten der progressiven Betriebsnudelei ziehen. Dass Netanyahu überwiegend für das Theater schreibt, macht sich in „Itamar K.“ vorteilhaft bemerkbar. In den Dialogen trifft er den Ton dieser schwatzenden Klasse perfekt. Da der Typus, den er schildert, genau so in Berlin und London vorkommt, muss der Leser auch keine größeren Verständnishürden überspringen.
Komisch wirken die Kulturbetriebsfiguren in „Itamar K.“ allein schon dadurch, dass sie in der festen Überzeugung reden und werkeln, weltläufig, ungewöhnlich und scharfsinnig zu sein, während sie unentwegt die immergleichen abgestandenen dekonstruktivistischen Textbausteine absondern, die unter urbanen Progressiven seit Jahrzehnten als Shibboleth dienen. Einer dieser Figuren erklärt zum Schluss Itamar K., jemand wie Melamed könnte nie als wirklicher Künstler gelten, er habe sich mit seinen falschen Ansichten eben zu stark von den Wohlmeinenden unterschieden: „Wir lehnen das Denken in Schubladen ab, wir kämpfen gegen den Konformismus“.
Iddo Netanyahu, Itamar K., Hess, 302 Seiten, 22 Euro
Werthers Zeit, plötzlich so nah
Vor 250 Jahren entstand Goethes Epochenroman. Aus welcher Welt kam dieses Buch? Johannes Saltzwedel lässt das Jahr 1774 für uns lebendig werden
Warum, denkt sich der Leser von Johannes Saltzwedels „Werthers Welt“, gibt es dieses Buch nicht schon längst? Es folgt der einfachen, einleuchtenden Idee, das Jahr 1774, in dem Goethe seinen „Werther“ schrieb, mit kaleidoskopartig angeordneten kleineren und größeren Texten, mit Bildern, Zeugnissen und Kommentaren lebendig werden zu lassen. Lebendig machen, das heißt die Frage zu beantworten: Was geschah vor 250 Jahren in der bekannten Welt, in Europa, Deutschland, Frankfurt? Worüber unterhielt man sich in literarischen Kreisen? Womit befasste sich der Klatsch? Aus welchen Quellen schöpften Goethe und andere Autoren? Was galt den Zeitgenossen 1774 als wichtig, aufregend, erschütternd? Was lasen sie? Wie nahmen sie die damaligen Theaterstücke, Romane und Zeitungsberichte auf?
Seiner Sammlung stellt Saltzwedel ein Zitat Goethes aus „Dichtung und Wahrheit“ voran, in dem der Dichter seinen Werther auf die Zeit bezieht, in der er entstand und in die der Roman wiederum hineinwirkte (unter anderem dadurch, dass er die Vorstellungen der romantischen Liebe auf lange Zeit prägte):
„Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschläudern, so war auch die Explosion welche sich hierauf im Publicum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein Jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publicum nicht verlangen, daß es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, wie ich schon an meinen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorurtheil wieder ein, entspringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, daß es nämlich einen didactischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.“
Nach diesem Muster, nicht tadelnd oder billigend, sondern entwickelnd zieht der Autor uns in eine Umbruchszeit, in der sich nach mehreren Missernten gerade der Sprengstoff für die französische Revolution auftürmt, in der in den britischen Kolonien jenseits des Atlantik der Unabhängigkeitskampf beginnt, und in dem der Papst den Jesuitenorden aufhebt.
Saltzwedel lässt die große und die kleine Welt zusammenfließen und gibt dadurch einer Zeit Kontur. Am 22. Januar etwa, erfahren wir in diesem Jahrbuch, holt Goethe „Maximiliane Brentano zum Schlittschuhlaufen ab; er leiht sich von seiner zuschauenden Mutter ihren roten, zobelverbrämten Samtrock und läuft damit, auf dem Kopf eine braune Pelzmütze, unter den Brückenbogen des vereisten Mains.“ Am gleichen Tag schreibt Kriminalrat Theodor Gottlieb Hippel aus Königsberg an seinen Bekannten Johann Georg Scheffner: ‘Haben Sie den Götz von Berlichingen gelesen? Ein herrliches Stück. Empfindung, Kraft im Ausdruck! alles, nur keine Regel‘“. Kriminalnachrichten stehen neben Ereignissen am Hof von Paris und London, in Briefen und Tagebüchern reden wichtige und längst vergessene Zeitgenossen dieses Jahres. Dazwischen finden sich längere Texte Saltzwedels, in denen er erzählt, was Goethe an Lesestoff und sonstigen Anregungen aufnahm. Beispielweise den von Christian Gottlob Heyne einige Jahre zuvor neu übersetzten und popularisierten griechischen Dichter Pindar: Diesen Band kaufte der Frankfurter Dichter sofort. Er hinterließ bei ihm eine große Wirkung; „ich wohne jetzt in Pindar», schrieb Goethe 1772 an Herder.
„Werthers Welt“ gehört zu den Büchern, die man von vorn beginnen, aber auch irgendwo anders aufschlagen kann. Egal wo, es zieht jeden, der sich für europäische Ideengeschichte interessiert, sofort in die Texte. Johannes Saltzwedel, langjähriger Spiegel-Redakteur der alten Garde, besitzt als Autor, aber auch als Kurator der vielen Textfunde ein sicheres Gespür für Perspektiven- und Rhythmuswechsel, für groß und klein, für Spannungsbögen.
Am Dienstag, den 1. Februar 1774, beginnt Goethe mit seinem „Werther“. Saltzwedel stellt die Tagebuchnotiz des Dichters über die Eisstärke und seine Pläne fürs Schlittschuhfahren vom gleichen Tag dazu: „Gestern trugs noch nicht, heut wird gewagt.“
Johannes Saltzwedel, Werthers Welt, zu Klampen, 312 Seiten, 38 Euro
Zwei Entdeckungen, ein 100. und ein 200. Geburtstag
Jürgen Schmid empfiehlt den wandernden Beschreiber von „Land und Leuten“ Wilhelm Heinrich Riehl und den in dutzende Sprachen übersetzten Kinderbuchautor Otfried Preußler
Es gilt wiederzuentdecken bzw. weiterhin in Ehren zu halten: Einen komplett vergessenen und einen nach wie vor höchst beliebten Autor – Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) und Otfried Preußler (1923-2013), einen Hochschullehrer mit Zugang zum Hof des bayerischen Volkskundekönigs Maximilian II. und einen Volksschullehrer mit Zugang zu Kinderseelen in der ganzen Welt.
Wilhelm Heinrich Riehl – legendärer Begründer der Volkskunde, von dem sich sein Fach schon längst verabschiedet hat, bevor es sich von sich selbst verabschiedete. Ein Kulturkritiker von jener Sorte, die Progressive gerne mit dem Diffamierungsbegriff „Kulturpessimist“ belegen, um ihre Anliegen zu diskreditieren.
„Ein durchweg in Bildung abgeschliffenes, in Wohlstand gesättigtes Volk“, so liest man 1853 in Riehls „Land und Leute“, seiner großen „Naturgeschichte des Volkes“, „ist ein totes Volk, dem nichts übrig bleibt, als daß es sich mitsamt seinen Herrlichkeiten selber verbrenne wie Sardanapal.“ Jener sagenhafte assyrische Herrscher, so will es die Überlieferung bei Diodor, galt als Urbild eines genußsüchtigen Weichlings. Solche Sardanapals, neudeutsch: Hedonisten, dem Natürlichen entfremdete Menschen zu erzeugen wäre einfach, meint Riehl: „Rottet den Wald aus, ebnet die Berge ein und sperret die See ab, wenn ihr die Gesellschaft in gleichgeschliffener, gleichgefärbter Stubenkultur ausebnen wollt!“
Die „Stubenkultur“, ist das nicht jene winzige, aber mächtige Echokammer, die aus ihren urbanen Blasen heraus das Land im Griff hat? Jenes abgeschottete Medien-Milieu der „den öffentlichen Dialog als Beruf Ausübenden“ (Tagesspiegel), das nahezu ausschließlich aus Stadtbewohnern besteht, die das „Land“ nur als wochenendlichen Freizeitraum kennen, vielleicht gerade noch als Nahrungsmittellieferantenzone in Form der „Ökokiste“, die an Wohnungstüren angesagter Stadtviertel geliefert wird?
Riehl schrieb sein Buch über „Land und Leute“ ausdrücklich als „Wanderer und Journalist“, weil er zu jener Zeit zur Redaktion von Cottas Allgemeiner Zeitung in Augsburg gehörte, einem „Intelligenzblatt“ von „weltberühmte[r] Autorität“ (Heinrich Heine). Riehls ausgebreitete Erkenntnisse sind „nicht aus Büchern geschöpft, sondern erlebt und erwandert“. Einen wirklichen Erkenntnissucher treibe es „hinaus“, um „im unmittelbaren Verkehr mit dem Volke Land und Leute“ so kennen zu lernen, wie es die von Pfalz zu Pfalz ziehenden Reisekönige jahrhundertelang tun mussten (was Joachim Fernau am Beispiel Ottos des Großen eindrücklich schildert, jenem „Herrn des Abendlands, zu dem jeder Pferdeknecht ‘Herr König’ sagte“). Wenn schon die Minister „nicht mehr regierungshalber durch das Land reiten“, so Riehl, wenn „die Staatsmänner nicht mehr auf die Wanderschaft gehen können, so sollten es wenigstens die politischen Schriftsteller für sie tun.“ (Vorworte des Verfassers 1853 / 8. Auflage 1883)
Dass „Land und Leute“ als Gegenentwurf zum „allumfassenden rationalistischen Machbarkeitsanspruch“ unserer Zeit gelesen werden kann, wie es Manuscriptum in seiner Verlagsanzeige für den einzig derzeit auf dem Buchmarkt verfügbaren „Riehl“ behauptet, mag eine Prognostik seines Verfassers zeigen: Mit dem „Ausbau der Eisenbahnnetze, meinte er, seien zahllose Dörfer dem Kränkeln, Abmagern und Absterben eben so sicher geweiht, „als sich den großen Städten eine immer unförmlichere Korpulenz ansetzt. Die Herrschaft der großen Städte über das Land ist eine der sozialen Kernfragen unserer Zeit.“ Wie aktuell das ist: „Unsere neuen wunderbaren Straßenbauten führen das Land in die Stadt. […] Dort ein Übermaß rastlos drängenden Lebens, hier Totenstille und Verödung.“ Wie sehr Riehl hier den Finger in eine Wunde legt – auch moderner Individualverkehr kennt nur eine Richtung: Weg vom Dorf.
Das Ausbluten von Landleben und Bauernstand ist heute Realität, von Geert Mak als „Ende des Dorfes in Europa“ betrauert. Was aber, wenn der Bauernstand – wie es Riehl in „Die bürgerliche Gesellschaft“ (1851) beschreibt – zu den „Mächte[n] des Beharrens“ gehörte, wenn mit dem Bauern „eine unüberwindliche conservative Macht in der deutschen Nation [ruhte], ein fester, trotz allem Wechsel beharrender Kern“? Hatten dann Riehls „Mächte der Bewegung“ (Bürgertum, Proletariat) nicht handfeste Interessen, den Bauernstand – welcher „den Tag lieber nach dem Kalenderheiligen als durch die todte Ziffer des Datums“ bezeichnet – zuerst sprachlich auf die Ebene „Primärsektor“ herabzuwürdigen (immerhin: primär, also: ursprünglich, zuerst vorhanden, grundlegend), um ihn anschließend unter dem Euphemismus „Strukturwandel“ ganz abzuwickeln als wahrnehmbare Größe?
Wilhelm Heinrich Riehl war ein Beobachter der Zeitläufte, der polarisiert und doch in verschiedenen Lagern anschlussfähig ist: Für den konservativen Manuscriptum-Verlag mit seinem „Plädoyer für das Individuelle, Ungleiche, Lokale, Besondere und Nachhaltige“ (2010), für einen „Progressiven“ wie Jost Hermand als „geistige[s] Haupt der antiindustriellen Gegenströmung“, das sogar rühmende Erwähnung findet in einem Werk mit Titel „Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewusstseins“.
Otfried Preußler – Schöpfer des „Kleinen Wassermann“ (1956), von „Pumphutt und die Bettelkinder“ (1981), „Hörbe mit dem großen Hut“ (1981; vorzüglich illustriert vom Verfasser!), des „Rübezahlbuchs“ (1993), nicht zuletzt des unvergleichlichen „Krabat“ (1971). In seinem Werk spiegelt sich der Verlust der Mythe, welcher einen Verlust an Staunen, Demut, Ehrfurcht, heiligem Schauder nach sich zog. Religio, verstanden als Rückverbundenheit, wie sie der schreibende Lehrer als Kind im böhmischen Reichenberg, im heimischen Iser- und Riesengebirge, noch authentisch erlebt hat, in den Erzählungen der Großmutter und im Sagen erwandernden Vater, bleibt in seinen Büchern der Welt überliefert – buchstäblich. Böhmische Sagengestalten wie Wassermann oder Hörbe fielen den Plünderungen 1945 zum Opfer, als die Sagenkartei von Preußlers Vater von Tschechen auf die Straße geworfen wurde. Der Sohn lässt Überlieferung und Vaterandenken weiterleben, in vielen seiner Kinderbücher und konzentriert in seinem Sagenbuch „Zwölfe hat’s geschlagen“ (1988).
Preußler gibt seinen kleinen und großen Lesern das Staunen zurück. Zum Dank dafür hat das Otfried-Preußler-Gymnasium Pullach im Jahr des 100. Geburtstages seines Namensgebers keine anderen Sorgen, als die „Umbenennung“ wegen Preußlers „HJ-Karriere“ zu debattieren. Entfernt die Schulbibliothek dann auch Bücher von Günter Grass?
Dass ein Autor sich als „simplen Geschichtenerzähler ohne alle gesellschaftspolitischen Ambitionen“ versteht, wie Preußler es tat – unverzeihlich in bestimmten Kreisen, denen alles, natürlich auch das Kinderbuch, ein Politikum (sprich: Ideologie) ist oder sein sollte. So konnte es geschehen, dass „Der kleine Wassermann“ von einem Verlag nicht der neuen Veröffentlichung würdig befunden wurde – weil nicht mehr „zeitgemäß“: „Märchen sind nicht gefragt. Schreiben Sie Umweltgeschichten!“, bekam der Autor zu hören.
In „Pardon“ konnte man 1972 gar lesen: „Wie man Kinder vermurkst“. Als Vermurkser wurde Otfried Preußler ausgemacht, ironisch war das nicht gemeint: „Wenn Sie Ihren Kindern so richtig schön was Schlechtes tun wollen, dann kaufen Sie ihnen zu Weihnachten einen der Bestseller von Preußler. Lassen Sie Ihre Kinder beim Zauberer Krabat in die Lehre gehen. Sie geben ihnen damit eine gute Chance, ein verkorkstes Bewusstsein zu entwickeln.“ Ein größerer Unsinn kann gar nicht geschrieben werden. Wer bei Preußler in die Lehre geht, lernt gerade in seinem Krabat, dass die Macht der Liebe das Böse überwinden kann.
Vergessene und verfemte Autoren, die zu Unrecht vergessen sind, zu lesen – das ist Traditionspflege, die mit Freude und Gewinn geübt werden kann. Nicht zuletzt bietet sich eine Gelegenheit, wieder einmal ein Antiquariat aufzusuchen und darin zu stöbern, um Riehls „Bürgerliche Gesellschaft“ von 1851 zu finden oder seine Porträtgalerie „Kulturgeschichtliche Charakterköpfe“ von 1891, worin er dem bayerischen Volkskundekönig Maximilian II. ein Denkmal aus eigenem Erleben setzt. Die wenigen standhaften Antiquare, die es noch gibt in Zeiten des alles erdrückenden Online-Handels, haben es verdient, unterstützt zu werden von begeisterten Lesern.
_Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Erster Band: Land und Leute. Nachdruck der 10. Auflage von 1899. Mit einem Nachwort von Hans Jörg Hennecke. Manuscriptum, Lüdinghausen 2010, 404 Seiten, 16,80 Euro
_
_Mit Geschichten verzaubern. Otfried Preußler zum 100. Geburtstag. Herausgegeben von Kurt Franz. Verlag Sankt Michaelsbund, München 2023, 64 Seiten, 7,90 Euro
_
Otfried Preußler, Der kleine Wassermann, Thienemann, 112 Seiten, 15 Euro
_Otfried Preußler, Pumphutt und die Bettelkinder, Thienemann, 28 Seiten, 12,90 Euro
_
Otfried Preußler, Hörbe mit dem großen Hut, Thienemann, 104 Seiten, 16 Euro
Wichtiger Hinweis für alle Publico-Unterstützer: Die Kontonummer hat sich geändert. Sie finden die neue Bankverbindung weiter unten. Herzlichen Dank!
1 Kommentar
Original: Publico Lesezeit:
Bücher für lange Winterabende
Liebe Leser von Publico: Dieses Onlinemagazin erfüllt wie eine Reihe von anderen Medien, die in den letzten Jahren entstanden sind, eine zentrale und früher auch allgemein selbstverständliche publizistische Aufgabe:
Es konzentriert sich auf Regierungs- und Gesellschaftskritik.
Offensichtlich besteht ein großes Interesse an Essays und Recherchen, die diesen Anspruch erfüllen.
Das jedenfalls zeigen die steigenden Zugriffszahlen.
Kritik und Streit gehören zur Essenz einer offenen Gesellschaft.
Für einen zivilisierten Streit braucht es gut begründete Argumente und Meinungen, Informationen und Dokumentationen von Fakten.
Publico versucht das mit seinen sehr bescheidenen Mitteln Woche für Woche aufs Neue zu bieten.
Dafür erhält dieses Magazin selbstverständlich kein Steuergeld aus dem Medienförderungstopf der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, kein Geld aus dem Fonds der Bundeszentrale für politische Bildung (obwohl Publico zur politischen Bildung beiträgt) und auch keine Überweisungen von Stiftungen, hinter denen wohlmeinende Milliardäre stehen.
Ganz im Vertrauen: Publico möchte dieses Geld auch nicht.
Die einzige Verbindung zu diesen staatlichen Fördergeldern besteht darin, dass der Gründer des Magazins genauso wie seine Autoren mit seinen Steuern dazu beiträgt, dass ganz bestimmte Anbieter auf dem Medien- und Meinungsmarkt keine Geldsorgen kennen.
Es gibt nur eine Instanz, von der Publico Unterstützung annimmt, und der dieses Medium überhaupt seine Existenz verdankt: die Leserschaft.
Alle Leser von Publico, die uns mit ihren Beiträgen unterstützen, machen es uns möglich, immer wieder ausführliche Recherchen, Dossiers und Widerlegungen von Falschbehauptungen anzubieten, Reportagen und Rezensionen.
Außerdem noch den montäglichen Cartoon von Bernd Zeller. Und das alles ohne Bezahlschranke und Abo-Modell. Wer unterstützt, sorgt also auch für die (wachsende) Reichweite dieses Mediums.
Publico kann dadurch seinen Autoren Honorare zahlen, die sich nicht wesentlich von denen großer Konzernmedien unterscheiden (und wir würden gern noch besser zahlen, wenn wir könnten, auch der unersetzlichen Redakteurin, die Titelgrafiken entwirft, Fehler ausmerzt, Leserzuschriften durchsieht und vieles mehr).
Jeder Beitrag hilft.
Sie sind vermutlich weder Claudia Roth noch Milliardär.
Trotzdem können Sie die Medienlandschaft in Deutschland beeinflussen.
Und das schon mit kleinem Einsatz.
Der Betrag Ihrer Wahl findet seinen Weg via PayPal – oder per Überweisung auf das Konto
(Achtung, neue Bankverbindung!)
A. Wendt/Publico
DE88 7004 0045 0890 5366 00,
BIC: COBADEFFXXX
Dafür herzlichen Dank.
Die Redaktion
Werner Bläser
22. Dezember, 2023Ihre Formulierung «Winter des Missvergnügens» bringt mich auf was. Zumal wir ja jetzt Jahre des Missvergnügens hinter uns, und, womöglich, noch zwei weitere vor uns haben. Bis diese Sadisten-Regierung endlich abgelöst wird, die nur im Sinn zu haben scheint, das Volk maximal zu quälen.
Larry Lamb, ein Leitartikler für die britische ‘Sun’ zitierte den «winter of discontent» aus Shakespeares ‘Richard III’, um den quälenden Streikwinter 1978/79 zu charakterisieren (gottseidank hatte ich mein Studium in England damals schon beendet, allerdings waren die Jahre 1974/75 schlimm genug gewesen).
Damals streikten die britischen Gewerkschaften, um Lohnforderungen bis zu 90% durchzusetzen. Das Land raste auf einen ökonomischen Abgrund zu. Sogar die Totengräber streikten, und die Öffentlichkeit hatte zunehmend das Gefühl, dass Gewerkschaftsführer wie Jack Jones, Hugh Scanlon, Arthur Scargill, und nicht die gewählte Regierung, das Land beherrschten. Die Labour-Regierung erwies sich als vollkommen hilflos. Das Chaos führte dann zum Wahlsieg Margaret Thatchers.
– Es wäre, gerade vor dem Hintergrund der jetzigen deutschen Erfahrung, vielleicht interessant, einmal die Geschichte von extrem schlechten Regierungen zu lesen, die ihr Land herunterwirtschafteten bzw. keinerlei Lösungen für die anstehenden Probleme hatten. Kurz: Extrembeispiele von Regierungen, die schlichtweg völlig inkompetent und überfordert waren.
Appleby beschreibt detailreich das Leben eines Regenten, der von Charakter und Kompetenz so denkbar ungeeignet für ein Regierungsamt war, wie man es sich extremer kaum vorstellen kann.
3a. Rok Spruk, The Rise and Fall of Argentina, in: ‘Latin American Economic Review’, 15 Nov 2019.
3b. Alan Taylor, The Argentina Paradox, microexplanations and macropuzzles, in: ‘Latin American Economic Review’, 2 Feb 2018.
3c. Arthur Whitaker, The Argentine Paradox, in: ‘Annals of the American Academy of Political and Social Science’, March 1961 (auf JStore lesbar).
Argentinien stellt für viele Ökonomen ein Rätsel dar. Das Land hat eigentlich recht gute Voraussetzungen für Wachstum und Wohlstand, und es hatte beides schon über längere Perioden erreicht, bevor ein Niedergang einsetzte. Was genau zu diesem Niedergang führte, ist nicht leicht zu eruieren. Es ist wahrscheinlich eine wilde Mixtur von unrealistischen Erwartungen der Bevölkerung, «populistischen» Wirtschaftspolitiken, Ideologie, politischer Unfähigkeit und Institutionenversagen. Die hier aufgeführten Schriften versuchen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
– Wir müssen abwarten, ob ähnliche Studien auch einmal über Deutschland geschrieben werden müssen. Zur Zeit sieht es sehr danach aus.