Die Vergangenheit, die es niemals gab, verdrängt die Geschichte
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Die Behauptung, der 8. Mai 1945 dürfe nur als Befreiung gesehen werden, steht nicht allein. Ob DDR, Nationalsozialismus oder Kaiserreich: Erfundene Historie erlebt eine Hochkonjunktur. Sie dient nicht dem Verständnis früherer Generationen – sondern dem moralischen Geländegewinn heute
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 37 min Lesezeit
Erinnerungspolitik gehört zu den Feldern, auf denen sich viele zu schaffen machen. Denn dafür braucht es weder Vor- noch überhaupt irgendwelche Kenntnisse. Ein Twitteraccount reicht.
Sowohl Bundesfamilienministerin Lisa Paus als auch der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz entwickelten die politische Geschichtsschreibung mit diesem Instrument ganz wesentlich weiter. Nachdem die AfD-Vorsitzende Alice Weidel erklärte, sie sei der Einladung in die russische Botschaft am 9. Mai nicht gefolgt, weil sie die Niederlage Deutschlands nicht an der Seite dieser früheren Besatzungsmacht feiern wollte, beschloss der Grünen-Politiker, das Gegenteil müsste richtig sein. Und noch ein bisschen mehr als das.
„Der Versuch der AfD-Vorsitzenden, die Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur durch die Alliierten als Niederlage umzudeuten“, schrieb von Notz, „ist ein weiterer Schritt der AfD sich völlig offen gegen die Werte unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stellen.“
Nach Ansicht des Abgeordneten gibt es in dieser Frage also nicht einfach zwei oder mehrere Sichtweisen, wobei er die von Weidel für falsch hält, sondern nur eine einzige überhaupt mögliche Erzählung, die er ohne nähere Begründung aus der Verfassung ableitet.
Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 8. und der restlichen Heeresgruppe Süd am 9. Mai 1945 markiert für ihn also erstens einen Akt der Befreiung ohne jede Ambivalenz. Und zweitens entlarvt sich jeder als Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der darin eine Niederlage sieht. Ob ganz und gar eine Niederlage oder auch eine Niederlage, auf diese Feinheiten kommt es bei ihm so wenig an wie auf die Geschichte selbst.
Im Zusammenhang mit den Stern-Tagebüchern – ältere Leser entsinnen sich – fiel 1983 der Satz, die deutsche Geschichte müsse jetzt in großen Teilen umgeschrieben werden. Unser wohlgesinnter Politiker schafft das in acht Zeilen auf X, vormals Twitter. In der Chronik nach Notz handelte es sich bei den allermeisten Deutschen im Mai 1945 um Opfer, die von der geringen Zahl ihrer nationalsozialistischen Unterdrücker befreit werden mussten – und das von vier weltanschaulich nicht gerade gleichgearteten Mächten, mit denen sich die allermeisten Deutschen nach dem Befreiungstag trotzdem in bestem Einvernehmen befanden.
Wo sich keine Niederlage ereignete, gab es folglich auch keine Siegermächte. Und die Befreiung brachte den Deutschen in München und Kassel die gleiche Freiheit wie denen in Magdeburg und Rostock. Der gesamte Zweite Weltkrieg produzierte in von Notz’ Variante zwar eine Menge Kohlendioxid und toxische Männlichkeit, besaß aber alles in allem den Charakter der weiterentwickelten Bundesjugendspiele, die neuerdings auch keine Gewinner und Verlierer mehr kennen, sondern nur noch Beteiligte.
Mit dem, was ein Konstantin von Notz nicht weiß, ließen sich Bibliotheken füllen. Deshalb ahnt er nicht, wie nah er mit seinem Geschichtsersatz der offiziellen DDR-Historiografie kommt, die den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärte, nämlich der Befreiung eigentlich nur der Ostdeutschen von Hitler, dessen Paladinen und dem Monopolkapital durch die Sowjetarmee. Der DEFA-Propagandafilm „Du und mancher Kamerad“ nach dem Drehbuch von Karl-Eduard von Schnitzler erklärte dem Publikum in der DDR die Geschichte 1956 exakt nach diesem Muster. Die deutschen Soldaten in beiden Weltkriegen und überhaupt die Normalbürger – also eigentlich fast alle – wurden von Monopolherren und Junkern verführt und verhetzt. Auf der über alle Zweifel erhabenen Seite standen von Anfang an nur die Kommunisten, die nach 1945 endlich zusammen mit den sowjetischen Instrukteuren den eigentlich schuldlosen und nur verirrten Massen den Weg in eine bessere Zukunft wiesen, im Gegensatz zu den Menschen im Westen, der noch auf seine wahre Befreiung warten musste.
Um diese Geschichte zu untermauern, dachten sich die DDR-Propagandisten die Formel von den ‘Siegern der Geschichte‘ aus, zu denen sie alle erklärte, die sich loyal zur neuen Staatsmacht verhielten, die ihre Funktionselite zu einem nicht geringen Teil aus Kadern des NS-Staats rekrutierte. Für Karrieren dieser Art stehen stellvertretend der DDR-Plankommissionschef Erich Apel, vormals einer der Entwicklungsingenieure für die V2 erst in Peenemünde, wo KZ-Gefangene die Montagearbeit verrichten mussten, später dann in der Nähe des KZ Mittelbau-Dora und der erste DDR-Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, Träger der „Treuemedaille des Führers“, 1944 zum Reichsgerichtsrat am Reichsgericht befördert.
Die östliche Geschichtserfindung nach 1949 machte es möglich, dass sich anpassungsfähige Funktionäre wie Apel und Melsheimer als Sieger der Geschichte auf der Seite des Fortschritts fühlen konnten, während die Arbeiter, die sich am 17. Juni 1953 gegen die SED erhoben, in der gleichen Orthodoxie als Teilnehmer eines faschistischen Putsches galten, selbst dann, wenn sie damals noch zu jung waren, als dass sie vor 1945 eine Waffe und eine Uniform hätten tragen können. Der aus verschiedenen Gründen problematische, aber in NS-Hinsicht unverdächtige DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin spottete einige Jahre vor dem Mauerfall, mit der Formel von den Siegern der Geschichte hätte die offizielle Propaganda ihren Staatsbürgern einreden wollen, bei der DDR handle es sich um die fünfte Macht der Alliierten im Kampf gegen Hitler.
Bei Familienministerin Lisa Paus klingt es ähnlich wie bei von Notz, nur mit einem passenden Dichterzitat angereichert:
„Weidel stellt die Befreiung von Nazi-Deutschland durch die Alliierten als Niederlage Deutschlands dar. Dazu fällt mir ein Brecht-Zitat ein: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.«
Oder kurz gesagt: NiewiederFaschismus.“
Bei ihr herrscht wie bei ihrem Parteikollegen eine strenge Trennung zwischen Nazi-Deutschland und einem Deutschland 1945, das ohne Niederlage davonkam. Mit etwas Literaturkenntnis wären ihr womöglich gerade noch rechtzeitig vorm Twittern die Zeilen des Dialektikers Brecht aus der „Kriegsfibel“ in den Kopf gekommen, die er zu einem Foto von Wehrmachtsstahlhelmen schrieb:
„Seht diese Hüte von Besiegten! Und nicht als man sie vom Kopf uns schlug zuletzt, war unsrer bittern Niederlage Stund. Sie war, als wir sie folgsam aufgesetzt.“
Obwohl Emigrant, benutzte Brecht ein lyrisches Wir. Sein Vers kommt der Formel des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sehr nah, am 8. Mai 1945 sei Deutschland sowohl „erlöst als auch vernichtet“ worden. Diese Dialektik hielt im Westen mehrere Jahrzehnte bis zu der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, der den Akzent auf ‘Befreiung‘ verschob. Allerdings nicht so wie Notz oder Paus, die auf die Weizsäcker-Rede verweist, offenbar ohne sie gelesen zu haben.
Dort heißt es: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.“ Und: „Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“
Er unterschied in seiner Ansprache auch zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in der auf eine Diktatur die nächste gefolgt war. Dieser Punkt fehlt übrigens in der Notz-Paus-Restle-Geschichtsschreibung völlig. Nach ihrer Doktrin, alle Deutschen müssten den 8. Mai ausschließlich als Befreiung sehen (und hätten ihn eigentlich schon unmittelbar nach 1945 so sehen müssen), verließ selbst Weizsäcker bereits 1985 den Boden der einzig zulässigen Geschichtsdeutung.
Brecht und Heuss wussten wie der damalige Bundespräsident das Selbstverständliche, nämlich, dass damals nur die allerwenigsten die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht als Befreiung empfanden. Das traf für die Insassen der Lager zu, sicherlich auch für etliche junge Soldaten, die sich nicht mehr verheizen lassen mussten. Aber die übergroße Mehrheit und längst nicht nur gläubige Nationalsozialisten erlebten den Zusammenbruch des Deutschen Reichs und seine Besetzung als Katastrophe. Der Satz Heinrich Bölls, den der ARD-Redakteur Georg Restle, geboren 1965, der Öffentlichkeit entgegenhält, stammt aus seinem erst 1984 entstandenen Text „Brief an meine Söhne oder vier Fahrräder“, in dem er vor allem erzählt, wie er selbst das Kriegsende erlebte (das für ihn mit seiner Gefangennahme schon am 9. April kam). An keiner Stelle dekretiert der ansonsten dem Moralisieren nicht abgeneigte Autor, jeder müsse sich unabhängig von seiner eigenen Lage befreit gefühlt haben.
Hier liegt der zentrale Punkt der neuartigen Geschichtspolitik per Twitter und passend ausgeschnittenem Zitat: Erinnerungen der Beteiligten spielen darin keine Rolle mehr. Auch keine authentischen Zeugnisse. Beide fallen zwangsläufig ambivalent aus. Bei dem, was gerade entsteht, handelt es sich im Gegenteil um eine Anti-Erinnerungspolitik, mit der Wohlmeinende eine Vergangenheit konstruieren, die es nie gab. Sie verlangen von der Gesellschaft, diese Konstruktion wie ein Glaubensbekenntnis nachzusprechen. Das, was der Historiker Egon Flaig einmal Fake History nannte, verdrängt in Deutschland allmählich die Geschichtsschreibung.
Die Festlegung, nur ein nicht näher beschriebenes ‘Nazideutschland‘, das mit dem eigentlichen Deutschland nichts zu tun habe, hätte eine Niederlage erlitten und das Gebot, der 8. Mai 1945 habe ausschließlich als Befreiungstag zu gelten, fügt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Geschichtserfindungen. Die Erzählung, türkische Gastarbeiter hätten Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut oder zumindest beim Aufbau geholfen, besitzt mittlerweile fast einen offiziellen Status. Das Wirtschaftswunder, meinte die SPD-Politikerin Aydan Özoğuz über die Gastarbeiter, wäre „sicherlich ohne ihre Mithilfe nicht vollendet worden“. Ihr höchstes Wachstum erreichte die westdeutsche Nachkriegswirtschaft 1955, das Jahr, in dem der millionste Käfer vom Band rollte. Spätestens 1960 endete die Wiederaufbauphase, die Historiker als Wirtschaftswunder bezeichnen, das erste Anwerbeabkommen mit der Türkei schloss Deutschland jedoch erst 1961. Diese Daten kommen kaum noch an gegen die kontrafaktische Erzählung von den türkischen Migranten, „die dieses Land mit aufgebaut haben nach dem Zweiten Weltkrieg» (Claudia Roth). In einem Text der Heinrich-Böll-Stiftung zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens 2021 heißt es sogar: „Sie haben nicht nur den Industriestaat Deutschland mitaufgebaut.“
Eine ganze Reihe anderer Geschichtskonstrukteure bemüht sich darum, die DDR in ein weiches Licht zu tauchen, allen voran Katja Hoyer, 1985 in Guben geboren, die seit Jahren in England lebt. Von dort aus erklärt sie mit dem Anspruch einer Historikerin die DDR oder vielmehr ein Land, das ihrer Vorstellung nach so existiert haben musste. „Das Leben war im Grunde recht angenehm», schreibt Hoyer, was für sie und ihre Eltern – NVA-Offizier und Lehrerin – vermutlich stimmte, für viele andere aber nicht. Diese anderen interessieren sie schlicht nicht; in ihrem Buch kommen keine Bespitzelten vor, keine früheren politischen Häftlinge, keine Zwangsadoptierten. Als prominente Gesprächspartner und Kronzeugen führt sie Egon Krenz und den rundum privilegierten Schlagersänger Frank Schöbel ein. Ihr Buch enthält so ziemlich jedes Klischee, das die westdeutschen Linken von dem angeblich besseren Deutschland pflegten: Vorbildliche Frauenförderung, fürsorgliche Sozialpolitik, unerschütterlicher Internationalismus, „Antifaschismus als Gründungsdogma». Die große Riege früherer Nationalsozialisten im DDR-Apparat ignoriert sie genauso wie alles andere, was nicht in ihre Pastellzeichnung passt. Mangelwirtschaft? War nicht so gravierend, und überwiegend Schuld des Westens. Der Aufstand am 17. Juni 1953 wurde „vom Westen gefördert», um „weitere Unruhe zu schüren».
Davon, dass die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam und Angola sich ihren Arbeitsplatz nicht selbst aussuchen durften, Teile ihres Einkommens abliefern und in Sammelunterkünften leben mussten, will die angebliche Historikerin nichts wissen. Die Vertragsarbeiter, behauptet sie, seien „weder aufgrund schierer wirtschaftlicher Notwendigkeit ins Land geholt» worden noch von der einheimischen Bevölkerung isoliert gewesen, „wie man gelegentlich behauptet».
Vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk überschlugen sich die Medienschaffenden geradezu vor Begeisterung über Hoyers alternative Geschichtsschreibung, die sie als britischen Reimport anpreisen. Die Leser des englischen Originals, schwärmte etwa der RBB, „staunen dann, wie die das da drüben gemacht haben mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Welch gigantische Wohnungsbauprogramme das kleine Land aus dem Boden gestampft hat. Na klar, für uns Deutsche ist das ein alter Hut. Hier aber werden solche Errungenschaften nun britisch pragmatisch und erstaunlich unideologisch auf Vor- und Nachteile abgeklopft“. In der ARD-Sendung „Titel Thesen Temperamente“ las sich der Werbespruch für Hoyers Werk so: „Oft werde dabei der Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur gerichtet und übersehen, dass die meisten der 16 Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen führten.“ Dass diese Deutschen sich 1945 befreit fühlten, versteht sich von selbst.
In einem vollkommen kritikfreien Interview will eine Tagesschau-Mitarbeiterin von Hoyer wissen (oder sich vielmehr bestätigen lassen): „Stecken wir in Deutschland noch zu sehr in den Schützengräben fest, wenn wir immer von Diktatur und Zwang sprechen?“
Bezogen auf die DDR, versteht sich.
Die Neuerfindung der DDR folgt einer hochaktuellen Diskurslogik. In einer Zeit, in der Degrowth-Prediger wie Ulrike Herrmann von Podium zu Podium ziehen, in denen Linke den Neomarxisten Kohei Saito, der Planwirtschaft im Namen des Klimas fordert, wie einen Popstar anschwärmen, in der staatliche Wirtschaftslenkung im Wirtschaftsministerium als bevorzugtes Mittel gilt – in dieser Zeit muss die DDR natürlich dringend rehabilitiert werden. Dieser Prozess begann nicht erst mit Hoyer.
Die zumindest für Gesamtdeutschland noch relativ frische Doktrin vom 8. Mai 1945 als ausschließliche Befreiung dient zwei noch etwas größeren und grundsätzlichen Zwecken. Diejenigen, die diese Sicht durchzusetzen versuchen, wünschen sich erstens die Befreiung von der Geschichte schlechthin. Das Jahr 1945 dient ihnen als absolute Grenzlinie; alles, was davor liegt, gilt als dunkles Zeitalter, in dem sich bestenfalls hier und da hellere Bezugspunkte finden. Der große Schnitt soll die Begriffe und Denkschablonen der Gegenwart von dem Wurzelgeflecht der authentischen Geschichte abtrennen – und damit auch von jeder Ambivalenz. In München debattierten progressive Nachgeborene darüber, ob das Schild der Erich-Kästner-Straße nicht zumindest mit einer kontextualisierenden Erklärtafel versehen werden sollte, um dem Autor, der nie irgendwelche Sympathien für die Nationalsozialisten zeigte, mit achtzigjähriger Verspätung vorzuwerfen, dass er nicht emigrierte. Richard Strauss gilt ihnen als noch problematischer, weil er bis 1935 der Reichsmusikkammer vorsaß. Diesen Posten verlor er, weil er sich weigerte, den Autorennamen des emigrierten Stefan Zweig aus dem Libretto „Die schweigsame Frau“ zu streichen. Nach dem Urteil hoch korrekter Kreise erhält neuerdings selbst Sophie Scholl den Stempel „ideologisch fragwürdig“, weil sie Mitglied des BDM war.
Zum zweiten entspricht das Verlangen nach absoluter Reinheit bei der ex-post-Beurteilung der Geschichte exakt der aktuellen Gesellschaftsunterteilung in das Lager der unanfechtbar Moralischen und jenes der in irgendeiner Weise Makelbehafteten, wobei, wie bei jeder Orthodoxie üblich, die Priesterkaste entscheidet, was bei anderen als Makel zu gelten hat.
Erst dann, wenn historische Begriffe aus ihrer Sinnverankerung herausbrechen, lassen sich Formeln wie Nazi und Faschist völlig beliebig in der politischen Tagesauseinandersetzung verwenden, nicht nur gegen Personen, sondern gegen alles mögliche, das im wohlgesinnten Milieu auf Ablehnung stößt. In dieser geschichtslosen Atmosphäre kann jemand beispielsweise behaupten, das Dirndl – in Wirklichkeit um 1870 erfunden und durch die jüdischen Textilhändler Moritz und Julius Wallach vor dem 1. Weltkrieg populär gemacht – sei nazi.
Zur Sinnzerstörung gehört auch die säuberliche Trennung in ein abstraktes Nazideutschland und den von einer Niederlage irgendwie unbetroffenen Rest. Sie erlaubt heute den beliebigen Umgang mit Sprachformeln und Bildern. Das gleiche Milieu, das an Kästner und Strauss Haltungsnoten verteilt und das 1936 entstandene deutsche Apotheken-Logo am liebsten verbannen würde, weil es sich laut Jan Böhmermann um ein „Nazi-Zeichen“ handle, dieses Milieu brauchte eine beachtlich lange Zeit, um in dem stürmerähnlichen Großgemälde auf der documenta 15 und in arabisch-muslimischen Aufmärschen mit „scheiß Juden“-Rufen überhaupt irgendetwas Problematisches zu entdecken. Die ZDF-Mitarbeiterin Sarah Bosetti reagierte verblüfft, als man ihr erklärte, ihr Begriff „Blinddarm der Gesellschaft“ für Gegner der staatlichen Corona-Maßnahmen enthalte durchaus Anklänge an die NS-Sprache. Denn die Grundfestlegung, von heute ab zurück über den 8. Mai `45 bis in die weitere Vergangenheit lautet: Das Böse wohnt immer woanders.
Hinter der nationalsozialistischen Ära gehen die Umformungs- und Putzarbeiten an der Geschichte weiter. Der Bismarck-Saal im Auswärtigen Amt verlor kürzlich auf Wunsch der Außenministerin seinen Namen. In Hamburg gab es den (einstweilen gescheiterten) Versuch, das Bismarck-Denkmal postkolonial umzugestalten. „Die Hamburger Politik hat versäumt, sich mit der Befreiung 1945 auch von ihrer Bismarck-Verehrung zu lösen“, rügte die taz. Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte dringend den Bibelspruch an der Kuppel des Berliner Schlosses durch eine „Intervention“ zumindest vorübergehend auslöschen. Und ginge es nach ihr, müsste auch das Kuppelkreuz verschwinden.
Die Berliner Beuth-Hochschule warf 2021 ihren Namen ab. Christian Peter Wilhelm Beuth (1781-1853) machte sich zwar um die preußische Gewerbeförderung und die moderne Ingenieursausbildung verdient, beides empfahl ihn als Namenspaten einer Ausbildungsstätte für Techniker. Allerdings entdeckten gründliche Forscher, dass Beuth 1811 eine antisemitische Tischrede gehalten hatte (die vermutlich weniger judenfeindlich ausfiel als die von Mahmoud Abbas, der sich sowohl der Wertschätzung durch deutsche Politiker als auch der Versorgung durch bundesrepublikanisches Steuergeld erfreut).
Wo Alternativhistoriker unentwegt tilgen und wegdefinieren, da entsteht Raum für Neuschöpfungen. Die Reichsgründung 1871 liest sich bei Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung an der Berliner Humboldtuniversität, in einem Text für den Focus so: „Schon 1848 war die Idee eines Gründungsdeutschlands multikulturell, multireligiös und multisprachlich.” […] „39 kulturell unterschiedliche, nicht zu einem Land gehörende Fürstentümer und Freie Städte, die sich zum Teil jahrhundertelang wegen religiöser Differenzen bekriegt hatten und die zudem unterschiedliche Sprachen sprachen, beschlossen, ein Deutschland unter einem Dach zu gründen. Die Sprachen dieses Landes waren Sorbisch, Russisch, Polnisch, Französisch, und Deutsch.”
Schon die Reihenfolge wirkt bemerkenswert. Bei Foroutan handelt es sich offenbar um eine Art Hoyer für das Kaiserreich.
Möglicherweise glaubt in einigen Jahren tatsächlich eine Mehrheit der Schüler und Studenten, dass es 1848 so etwas wie ein „Gründungsdeutschland“ gab (und vorher nichts), und dass sich 1871 mehrere „nicht zu einem Land“, also auch nicht zum alten deutschen Reich gehörende russische, polnische, sorbische, französische und auch deutsche Territorien zu einem bunten Gebilde zusammenschlossen, das aber gleichzeitig Kolonial- und sonstige Verbrechen in Serie beging. Sie glauben vielleicht, dass zwischendurch ein ominöses Nazideutschland existierte, von dem die Deutschen 1945 befreit wurden und vertreten außerdem die feste Überzeugung, dass gleich danach die türkischen Helfer das Land wieder in Schwung brachten, während weiter östlich schon einmal ein Musterstaat für Gleichheit, Gerechtigkeit, Antirassismus, sparsamen Ressourcenverbrauch und gütige Volkslenkung heranwuchs, der 1990 aus nicht näher erörterten Gründen formal verschwand, um jetzt als Fortsetzung mit anderen Mitteln fortgesetzt wiederzukehren. Schon jetzt halten viele die AfD für den Wiedergänger der NSDAP, so wie sie Nazi als Universalbegriff für Personen deutlich rechts der Mitte benutzen.
Auf innere Konsistenz kommt es bei der erfundenen Geschichte nicht an. Sondern nur auf Nützlichkeit für den heutigen moralischen Geländegewinn.
Wer das Haus Nummer 60 der Andrássy út in Budapest nach einem Rundgang wieder verlässt, der merkt mit einigen hundert Kilometern Abstand, in welchem Maß ein solcher Erinnerungsort in Deutschland fehlt. Vor 1945 diente das Gebäude als Quartier der Pfeilkreuzler, danach bis 1956 als Sitz des kommunistischen Geheimdienstes. Die Texte der Ausstellung im „Haus des Terrors“ weisen darauf hin, dass etliche Pfeilkreuzler als unentbehrliche Experten im Staatssicherheitsdienst des stalinistischen Ungarn anheuerten. Im Keller lassen sich die rekonstruierten Gefängniszellen besichtigen, die Überzeugungswerkzeuge,
die Hinrichtungszelle, in der die Geheimdienstmitarbeiter diejenigen exekutierten, die sie für Gegner hielten.
Eine mehr als zehn Meter hohe Tafel im „Haus des Terrors“ gibt den Opfern ein Gesicht.
Videoaufnahmen, in denen ehemalige Häftlinge, überlebende deportierte Zwangsarbeiter, aber auch ein früherer Offizier des Staatssicherheitsdienstes sprechen, bilden den Kern der Ausstellung. Es kommen Beteiligte an der Geschichte zu Wort.
Die große Leistung der Geschichtserfinder in Deutschland besteht darin, diese Stimmen gleich zweimal weitgehend verdrängt zu haben: für den Mai 1945 und für die DDR.
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
18 Kommentare
Original: Die Vergangenheit, die es niemals gab, verdrängt die Geschichte
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Werner Bläser
18. September, 2023Es ist ein sehr altes Phänomen, Herr Wendt. Schon die ägyptischen Pharaonen radierten Erinnerungen (z.B. Grab-Kartuschen) an missliebige Vorgänger aus. Ramses II. interpretierte die unentschieden ausgegangene Schlacht bei Kadesh wahrheitswidrig als Sieg für sich um.
Die Römer kannten ihre «damnatio memoriae», Stalin liess Personen aus alten Bildern der KP-Führung wegretuschieren, Mao operierte ähnlich, also was soll man von unseren modernen Politik- und Medien-Hanseln erwarten?
– Seit einiger Zeit versucht man, den Niedergang des alten Rom zu leugnen, indem man die «Vorzüge» der zivilisatorisch primitiven germanischen Nachfolgeregimes «aufpeppt», indem man z.B. auf ihre angeblich intellektuell-theologischen komplexen Vorstellungen von «Christologie» verweist.
Es ist lächerlich, wenn man sich näher mit der Materie befasst. Die abstrusen Hirnflatulenzen der sogenannten «Christologie» mit den zivilisatorischen Errungenschaften der Römer zu vergleichen, ist kindisch, angesichts des Niedergangs der Kunst, Baukunst, Literatur, etc….
– Was die Hexenverfolgung angeht, ist heute den meisten Leuten völlig klar, dass es sich um eine frauenfeindliche Kampagne gehandelt hat. Dass z.B. in England ein Grossteil der verbrannten Hexen männlich war («Zauberer»), interessiert keinen.
– Das «goldene Zeitalter Andalusiens», in dem angeblich paradiesische Zustände herrschten, in denen Mauren, Juden und Christen harmonisch und diskriminationsfrei zusammenarbeiteten, ist ein Halb-Märchen, das wesentliche negative Tatsachen ausspart, vor allem unter der Eroberung durch die fundamentalistischen Almohaden.
Das Schicksal des grossen jüdischen Gelehrten Maimonides ist dafür ein Beispiel – bitte dafür nicht die deutsche Wikipedia zu Rate ziehen, hier wird – wie üblich – politisch korrekt ein wesentlicher Teil der Wahrheit ausgespart. Man lese den Artikel in der englischen und genaueres.
– Tacitus schrieb seine Beschreibung der Germanen zum Teil mit der offensichtlichen Absicht, negative Aspekte der römischen Kultur seiner Zeit zu kritisieren. Die Äusserungen von Herodot zu den Persern fallen zum Teil (!) auch unter eine ähnliche Kategorie. Das erklärt ihre Widersprüchlichkeit.
– Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Der Mensch bleibt, was er ist.
Er versucht immer, sich die Realität zurechtzulegen, wie es ihm passt. Berger und Luckmann haben das in ihrem Klassiker «The social construction of reality» (jene Bibel der Wokies, die sie zwar meist nicht gelesen haben, nach der sie aber scheinbar handeln) schön dargelegt.
Luckmann – bei dem ich zeitweise in Konstanz noch studiert habe – hat sich darüber in einem Youtube-Clip recht empört geäussert, wie seine Erkenntnisse verfälscht wurden.
– Die Geschichte der europäischen Eroberung des nordamerikanischen Kontinents wurde ursprünglich als Narrativ erzählt, in dem Zivilisierte sich diese Erde untertan machten und dabei – unvermeidlicherweise – einige bösartige eingeborene Primitive bekämpfen mussten. Jetzt hat sich das ganze umgedreht in eine Schurkengeschichte von Landräubern, die rassistischerweise unschuldige Eingeborene vernichteten.
Beides ist gleich blödsinnig.
– Wer sich wirklich über Geschichte informieren will, dem bleibt nicht anderes übrig, als den dornigen Weg zu gehen und sich wirklich die Quellen (ja, so viele, wie möglich) anzulesen.
Das, was man so als verkürzte Darstellungen lesen kann, muss man in die Tonne kloppen.
Oskar Krempl
18. September, 2023Sehr geehrter Herr Wendet,
vielen Dank für einen wiederum sehr, sehr gelungenen Artikel. Der Titel trifft genau ins Schwarze. Sprachlich elegant, wie stets, beschreiben Sie wortreich einen Vorgang der Geschichtsklitterung, der weder unbeabsichtigt ist noch zufällig aus Ignoranz und Unkenntnis passiert.
Er ist so gewollt, damit nicht frühzeitig erkannt wird, wohin die Reise wirklich gehen soll.
Bezüglich des Ziels fällt mir aufs Erste nur mehr «Deutschland mir graut vor dir» ein.
Wir werden sehen wohin die Reise geht. Ob zuerst die Vernunft wiederkehrt oder die Reise in den endgültigen Abgrund weiter geht wird sich demnächst offenbaren.
E. Rau
18. September, 2023Sehr geehrter Herr Wendt,
ist es nicht dem Denken der aktuell regierenden Parteien immanent, dass nur ein mit ihnen verwachsener Deutscher Staat das wahre Deutschland sei und alles andere irgendwie anders, irgendwie Nazi und grundsätzlich etwas sei, mit dem sie sich nicht identifizieren können? Damit hätte das aus ihrer Sicht einzig zu existierende Deutschland im Mai 45 tatsächlich keine Niederlage erlitten, sondern Deutschlands Keim, welches nun zum Besten aller Zeiten erblühe, wurde befreit.
Diese Deutung würde zumindest einiges über das Selbst- und Deutschlandverständnis der regierenden Parteien erklären. Auch, dass sie sich nicht als temporäre Verwalter eines vorher und hinterher existierenden Staates, zeitweilige Angestellte des grundgesetzlichen Deutschen Volkes sehen, sondern als endgültige Vollstrecker, die von Ihnen beschriebene «Sieger der Geschichte».
Als Liberaler ist dieses umfassende Einverleiben der Guten, ohne der Möglichkeit Fehler zu machen Platz einzuräumen und ohne das Bewusstsein ihrer Endlichkeit, beklemmend.
Mit freundlichen Grüßen
E. Rau
Andreas Rochow
18. September, 2023Die DDR-Diktatur und die Mauerschützen-SED wurden nach der Wende weitestgehend rehabilitiert. Der privilegierte Davongekommene Genosse Gysi hat auch in Sachen Selbstdarstellung Großartiges geleistet und füllt als witzischer «Zeitzeuge» woke-starker Meinung die Kleinkunsttheater der verblödeten Republik. In der Wendezeit hat sich Egon Krenz einmal gegen den Vorwurf, selbst verbrecherisch regiert zu haben, mit dem Verweis darauf verteidigt, dass «wir» aber keine KZ betrieben und keinen Massenmord begangen haben. Dann ist alles gut und wir können munter so weiter machen? Im Windschatten der Shoah relativieren sich die Mauertoten. Eine historische Vergangenheitsbewältigung fand nicht wirklich statt. Der Antifaschismus war in der DDR als Selbstreinigungs-Pflichtroutine angelegt! «Der Sozialismus siegt!» war die ernsthafte Zukunftsvision, die die SED-Staatsführung herausgab. Auch: «Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.» Diskussionen darüber gab es öffentlich nicht und wer die Parolen bis 1989 unvorsichtig infrage stellte, wurde zur Zielscheibe für die Stasi. Sehr zu Pass kam der 1989 in der Demokratie gestrandeten SED, dass nicht die SED mit ihrem Schild und Schwert, der Stasi, in den Focus der Aufklärer geriet, sondern die Zigtausende von IMs. Die Hauptamtlichen waren in ihren Villen in Kleinmachnow vor Verfolgung sicher und konnten wie Sven Hüber in der Nähe der Innenministerin beachtliche Posten bekleiden. Zeitsprung! Die Neigung, Andersmeinende zu denunzieren – ist bis heute gleich geblieben. «Wallraffen» steht im Schwedischen Wörterbuch als Trickbetrug von Enthüllungsjournalisten. Wann wird das «Böhmermannen» aufgenommen als die großmediale Vernichtungsdenunziation aus dem Staatsfunk heraus gegen eine nicht genehme Persönlichkeit des öffentlichen Lebens? Hoyer und Böhmermann stehen prototypisch für Opfer einer us-basierten propagandistischen Re-Education, die Caspar von Schrenck-Notzing «Charakterwäsche» nannte. Die dahinter stehenden kreativen Thinktanks sind auch heute hoch aktiv. Ihre Idee, sozial Gutmenschliches in die Corporate Identity von Unternehmen, Finanzdienstleistern, Lobbyisten, Medienleuten und Politik zu integrieren, war die Geburtsstunde des Wokeismus, der via Goldmann Sachs und WEF pandemische Anwendung findet. Ein toxischer Selbstläufer: Das schnelle, simple moralische (Vor)Urteil «woke» bestimmt seither Produktwerbung, die Agenda von NGO-Wühltätern, Gesellschaftskonstrukteuren und Politikern. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn Intellektuelle, Akademiker, Lehrer, Pfarrer aller Konfessionen, Journalisten und CEOs das billige, primitive Woke-Werkzeug anwenden und mit wehenden Fahnen in den Woke-Faschismus stürmen! Der Staatsfunk als Multiplikator des Wokismus macht das erst möglich. Kein Wunder, wenn Gestalten wie Frau Maischberger die Qualifikation(?) der WEF Young New Leader(in) besitzt. Der Erfolg jeder Diktatur steht und fällt mit ihren Staatsmedien. Mit woken Medien und woken Wissenschaftlern kann da nichts schiefgehen. Die Geschichte wird von charaktergewaschenen linksgrünen, woken Figuren neu geschrieben. Woker Bullshit – ein Pleonasmus!
Leonore
1. Oktober, 2023@Andreas Rochow
Sie schreiben «Im Windschatten der Shoah relativieren sich die Mauertoten». Das ist natürlich wahr. Aber die Menschen in der DDR hatten ja nicht nur den Tod an der Mauer zu fürchten.
Es war ja nicht so, daß man einfach nur brav die innerdeutsche Grenze akzeptieren mußte, um in Sicherheit zu sein!
Daß die DDR die Todesstrafe (mittels Fallbeil) verhängt und exekutiert hat, ist nur wenigen bekannt.
Vielleicht auch, daß sie nach der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki nur noch solche Foltermethoden anwenden ließ, die keine forensisch feststellbaren Folgen hinterließ. (Z.B. Folter durch ständiges Wecken in der Nacht oder durch wochenlanges Auskühlen in nasser Kleidung, die wieder mit dem Wasserschlauch durchnäßt wurde, sobald sie anfing zu trocknen, aber auch durch seelische Folter, die von Psychologen (!) entwickelt wurde. Diese wurde keineswegs nur an Inhaftierten angewandt. Auch Dissidenten auf freiem Fuß wurden durch sogenannte «Zersetzungsmaßnahmen» gequält, in die Depression oder gar den Selbstmord getrieben.
Die schockierend hohe Zahl der Suizide in der DDR wird auch in dem sehr empfehlenswerten Film «Das Leben der anderen» thematisiert.
(Die einzige Schwachstelle des Films ist, daß die Hauptrolle ein Stasi-Offizier (hervorragend gespielt von Ulrich Mühe) ist, der am Anfang zwar ideologisch absolut auf Linie, aber – im Gegensatz zu seinem opportunistischen, menschlich miesen und moralisch verkommenen Kollegen – ein Idealist ist, der sich nach einer Weile gegen das Regime wendet und die von ihm überwachten sympathischen Künstler sogar unter Gefahr für sich selbst beschützt.
Eine «Schwachstelle» ist das aber nur beim Blick auf die Realität (es gab offenbar nicht einen einzigen solchen Überläufer aus Gewissensgründen). Cineastisch war diese Geschichtsklitterung dagegen ein Geniestreich: Ein Stasi-Offizier als guter Mensch macht den Film bzw. den Blick auf die Vergangenheit erträglicher, versöhnlicher und versaut einem nicht den Glauben an das Gute im Menschen.)
Andreas Rochow
18. September, 2023Ich wage eine maßlose Übertreibung: Deutschland habe, so wollen es woke, grünlinke Moralisten, eine große «historische Schuld» auf sich geladen. Diese zweifellos «woke» Begründung muss herhalten für den gesellschaftlichen oder gar nationalstaatlichen Suizid Deutschlands. Wer «Alles für Deutschland» sagt, wird angeklagt! Fatal ist dabei der «woke» Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. «Woke» ist es aktuell, wenn die Regierung kriminelle und terroristische Aktivisten aus antidemokratischen Vereinigungen wie den «Neuen deutschen Medienmachern» oder «Greenpeace» einstellt und dem Treiben fremdfinanzierter antidemokratischer Aktivisten von «Fridays for Future» oder der «Last Generation» applaudiert. Menschlich verständlich ist das schon, denn Hal Harvey und György Soros sorgen dafür, dass nicht nur ihre Aktivisten, sondern die Regierungen einen Nutzen davon haben. Auch Korruption und Geschichtsklitterung gehen unter diesen Umständen als lupenrein woke durch. Merkt das wirklich keiner? Der Woke-Faschismus ist so konstruiert, dass er selbsredend woke erscheint.
Peter Thomas
24. September, 2023Sie wagen ja aber doch gar keine Übertreibung, Herr Rochow, und schon gar keine maßlose. Denn genau das ersehnen «die Guten»: den Tod Deutschlands und den Tod alles Deutschen. Nur durch den Tod aller und alles Deutschen kann die Einzigartigkeit des NS-Verbrechens bewiesen werden. Es geht um Dualismus; damit «die Guten» sich absolut gut wähnen können müssen «die Bösen» auch absolut böse sein… «Die Guten» kommen – in ihrer endlosen Blödigkeit – aus der Nummer übrigens dadurch heraus, daß sie sich selbst zu Nichtdeutschen erklären. Und damit sind sie längst auf das moralische Niveau von Churchill, Stalin und Hitler gekommen.
Andreas Rochow
18. September, 2023In der DDR erhielt man in der (Allgemeinbildenden) Polytechnischen Oberschule ab Klasse 5 Russischunterricht. Ziel war die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit – ein gottlob krachend gescheitertes Projekt! Wie erstaunt waren wir, zu erfahren, dass die Sowjetunion den 9.Mai (1945) als Djen pobjedy, den Tag des Sieges, feiert. Aus DDR-deutscher Sicht war der 8. Mai schon immer der «Tag der Befreiung». Richard von Weizsäcker, ein Leugner der Legitimität des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals, hat das Befreiungs-Narrativ der DDR übernommen und hohltönend und vorauseilend als seine eigene woke Deutung verkauft! Sowas kommt an, weil woker Politboulevard einfache und moralisch unantastbare Deutungen anbietet. Wokes darf nicht hinterfragt werden. Punkt! Dass ein wissenschaftlicher Aufklärer der SED-Verbrechen von einem SED/Stasi-Mann im Berliner Senat gefeuert werden konnte als Chef einer wichtigen Stasi-Gedenkstätte, zeigt, wie sehr die Sensibilität für kommunistische Inhumanität verlorengegangen ist. Es ist gelungen eine kommunistische Leitideologie zu etablieren. Wir müssen den Antikommunismus von seinem konstruierten Schmuddelimage befreien! Linken Finger haben inzwischen die Macht über Krieg und Frieden mit einem eindeutigen Hang zum («woken») Krieg gewonnen. Nehmen wir sie ihnen!
pantau
19. September, 2023Kommt davon, wenn man in die Geschichtswissenschaft eine religiöse Kategorie einführt, die des absolut & einzig Bösen. So wird alles, was nicht identisch mit dem historischen Erscheinungsbild der NS-Bewegung ist, zum blinden Fleck.
Frau Weidel ist klug, sie hat ihre Aussage ja darauf berechnet, dass man sie falsch verstehen soll. Kann ich gut verstehen, das zu Kreuze kriechen hat auch in der Sowjetunion nicht davor bewahrt, dennoch in die sowjetischen KZ´s zu kommen. Möge die falsche Empörung der AFD weitere Wählerstimmen bringen.
Kleine Korrektur: Frau Bosetti hat es nicht bei Anklängen belassen. Der Blinddarmvergleich ist 1:1 Naziideologie, hier Frau Bosetti inmitten des gesunden Volkskörpers, dort die Kritiker auf dem Weg in die Organabfälletonne Marke «unwertes Leben». Nur weil die linke Blase den Nazivergleich inflationär pflegt, heißt das nicht, dass man ihn nicht auch mal retoure schicken darf, wenn er so passt wie in diesem Fall.
Rudi
20. September, 2023Ich denke, daß der Blinddarmvergleich schon selber ein problematisches Menschenbild darstellt. Dazu brauch man die «Nazikeule» nicht. Interessant dabei ist ja, daß Alexander Gaulands Aussage von der «Entsorgung in Anatolien» mehr Aufregung als die von Frau Bosetti machte. Aber das «Opfer» war ja damals auch eine «linke Politikerin mit Migrationhintergrund».
Peter Feierlein
19. September, 2023Nicht kommentiert ist angeblich ja auch gelobt, aber heute möchte ich Ihnen doch einen stehenden Applaus schicken, so für zwischendurch.
Rudi
19. September, 2023Zur These der «Befreiung» möchte ich folgende ketzerische Behauptung aufstellen. Auch die Alliierten hatten sich nicht als Befreier gesehen. Siehe zum Beispiel den Film «your Job in Germany» von Frank Capra. Der Feind waren nicht nur Hitler und die Nazis sondern auch die Deutschen bis zum Kindesalter. Daß die USA und die UDSSR nach 1948 eher deutsch-amerikanische und deutsch-sowjetische Freundschaft organisierten ist eher eine Folge des «Kalten Krieges». Wobei ich sagen muß, daß ich auch «anekdotische Erzählungen» aus dieser Zeit kenne. Aber da ja wie im Falle der «Türken, die Westdeutschland aufbauten» man schon an Legenden bastelt, die mit Fakten zu widerlegen schon «verpönt» ist, scheinen wohl Narrative schon langsam zu blühen.
Skepticus
19. September, 2023Ganz wichtig für die Linkslinken ist «die Moral». Welche Moral? Na deren Moral. DAS ist die «Gute». Alle anderen (kritischen) Meinungen sind «schlecht». Das führt geradewegs in das Totalitäre, wie die abschreckenden Beispiele der echten Nazis als auch den der Sowjet-Kommunisten noch immer ist. Nur eines ist es nicht: Eine Demokratie. Das scheint auch nicht (mehr) beabsichtigt zu sein.
Wie man liest, kann man ggf. Geschichte auch erfinden, «wenn den bösen Nachbarn (den Moralisten) die Tatsachen nicht gefallen». Alles, was eher rational orientierte Menschen analysieren, können die Moralisten nur empfinden – und liegen, wie die Geschichte gelehrt hat, zumeist daneben. Emotionen alleine sind keine guten Ratgeber, wo auch der Verstand unerlässlich wäre.
Karsten Dörre
20. September, 2023Gibt es einen Tag der Befreiung von der kommunistischen bzw. SED-Diktatur in Deutschland? Immerhin waren es keine Alliierten, die diese Diktatur beendeten. Der 3.Oktober kann es nicht sein, da es bis zum 3.Oktober 1990 keine kommunistische Diktatur mehr gab. Vermutlich gab und gibt es immer noch sehr viele Bürger, die mit kommunistischer oder quasikommunistischer Gesellschaftsform nicht abgeschlossen haben und im Stillen eine ähnliche Gesellschaftsform anstreben. Sieht man die derzeitige Ampelregierung, dürften Parallelen unverkennbar sein. Zitat Erich Honecker:»Wenn die Werktätigen an die sozialistische Umgestaltung der Bundesrepublik gehen, steht die Frage der Vereinigung vollkommen neu.»
A. Iehsenhain
20. September, 2023Agenturen für Historizismus haben heutzutage eine Gemeinsamkeit mit den Reproduktionsraten von Pilzen, bei entsprechend günstigem Klima (in all seinem bunten Wandeln). „In Karl Poppers gesellschaftstheoretischen Schriften ist Historizismus ein Irrglaube, der die Gefahr einer geschlossenen Weltsicht und einer Manipulation gesellschaftlicher Abläufe auf eine scheinbar wissenschaftlich feststehende Zukunft hin mit sich bringe“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Historizismus, oben in der Einleitung). Also handelt es sich wohl um Giftpilze. Die könnte man derzeit vergleichen mit dem Treiben jener Antihistoriker, die die Vergangenheit vertilgen wollen, um letzten Endes die Geschichte auf ihre heutigen grotesken Ausblühungen zu reduzieren. Irgendwann sind die Menschen der Zukunft dieser schrillen Milieus vielleicht überdrüssig und nehmen dann gerne das Angebot feilgebotener Erinnerungen wahr, ähnlich „Total Recall“ (nach Philipp K. Dick) oder Martin Grzimeks „Die Beschattung“. Im Spiegel gab es ein Interview zwischen Katja Hoyer und Eva-Maria Schnurr, und beim Blick in beide Gesichter wird man irgendwie den Eindruck nicht los, dass Hoyer (nach erfolgreicher Diät) das Interview aus der Zukunft heraus mit sich selber geführt hat, wobei das Buch ihr vermeintliches Alter Ego „eher ratlos zurücklässt“. Übrigens – der historizistische Putz-m/w/d-Klub hat hinsichtlich der Pfeilkreuzler bislang übersehen, dass deren Symbolik im Zeichenprogramm von Microsoft Word weiterhin verwendet wird, getarnt als „Pfeil in vier Richtungen“ im Menüband. Eigentlich höchste Zeit, einen woken Empörungsbrief an Bill Gates zu schreiben…
Majestyk
21. September, 2023Ich beziehe mich mal auf Sebastian Haffner, mit dem ich als junger Mensch mal ein paar Tage diskutieren durfte und laut dem dem Geschichte immer vor allem Geschichtsschreibung ist. Ich habe mich schon immer gefragt wie man mit Absolutheit ein Ereignis und auch historische Zusammenhänge bewerten will und oft sind es ganz einfache und praktische Gedanken die ein ganzes Narrativ ins Wanken bringen.
Zudem bin ich fest davon überzeugt, daß moderne Strukturen und digitale noch mehr Wahrnehmungsfehler erzeugen, nicht nur Gender oder Klima, auch der ganze Sozialismus oder Feminismus basiert ja auf einer konstruierten Wahrnehmung der Welt. Und je meher Menschen abseits einer natürlichen Lebensumgebung und auf Eigenverantwortung basierenden Lebensbedinungen ihr Dasein führen dürfte sich der Effekt noch verstärken, was sich erst ändert, wenn die konstruierte Welt an der Realität zerschellt.
Norbert Meyer-Ramien
22. September, 2023Sehr geehrter Herr Wendt,
ich kann Ihrem Beitrag – mit umfänglichen Erfahrungen der deutschen Ost-West-Geschichte seit 1948 – nur vollends zustimmen. Kompliment !!!
M.f.G. Norbert Meyer-Ramien aus HH-Neuengamme
Josi
23. September, 2023Lieber Herr Wendt, das allerbeste beim Lesen ihrer Texte ist das sich unmittelbar einstellende, sinnlich-haptische Gefühl, sich in einem nach Lavendel duftenden, weißleinenen, frisch bezogenen Bett zu befinden, in dem man – wie mir seinerzeit Gero von Randow seine Morgenroutine geschildert hat – auf seinen aufgeschüttelten Daunenkissen liegt und sich den Text – gemütlich von einer Tasse Kaffee begleitet – an die Decke proijizieren lässt: Dass Sie gezwungen sind Ihre Texte mit dem Elfenstaub Ihrer Schmetterlingsflügel zu schreiben, der ihren Flügeln dann leider nicht mehr zur Verfügung steht, hat ja schon Undine von Christian Andersen bitter erfahren müssen: Von nichts, kommt nichts. Josi