Zeller der Woche: Einfallstor
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Von Bernd Zeller / / spreu-weizen / 6 min Lesezeit
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Original: Zeller der Woche: Einfallstor
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Es konzentriert sich auf Regierungs- und Gesellschaftskritik.
Offensichtlich besteht ein großes Interesse an Essays und Recherchen, die diesen Anspruch erfüllen.
Das jedenfalls zeigen die steigenden Zugriffszahlen.
Kritik und Streit gehören zur Essenz einer offenen Gesellschaft.
Für einen zivilisierten Streit braucht es gut begründete Argumente und Meinungen, Informationen und Dokumentationen von Fakten.
Publico versucht das mit seinen sehr bescheidenen Mitteln Woche für Woche aufs Neue zu bieten.
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Ganz im Vertrauen: Publico möchte dieses Geld auch nicht.
Die einzige Verbindung zu diesen staatlichen Fördergeldern besteht darin, dass der Gründer des Magazins genauso wie seine Autoren mit seinen Steuern dazu beiträgt, dass ganz bestimmte Anbieter auf dem Medien- und Meinungsmarkt keine Geldsorgen kennen.
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Alle Leser von Publico, die uns mit ihren Beiträgen unterstützen, machen es uns möglich, immer wieder ausführliche Recherchen, Dossiers und Widerlegungen von Falschbehauptungen anzubieten, Reportagen und Rezensionen.
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Publico kann dadurch seinen Autoren Honorare zahlen, die sich nicht wesentlich von denen großer Konzernmedien unterscheiden (und wir würden gern noch besser zahlen, wenn wir könnten, auch der unersetzlichen Redakteurin, die Titelgrafiken entwirft, Fehler ausmerzt, Leserzuschriften durchsieht und vieles mehr).
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Werner Bläser
19. Juni, 2023Dürfen wir «Blödheit» für ein paar Minuten mit «Dekadenz» übersetzen? Nur, weil ich unsere liebenswerten linksgrünen Aktivisten nicht kränken möchte (will sie ja nicht gleich am Anfang als «blöd» bezeichnen – hebe mir das für das Ende auf). .
– Viele Menschen auf der eher rechten Seite des politischen Spektrums (aber nicht nur dort !) empfinden unser «bestes Deutschland, das wir je hatten», als bis in die Wurzeln verfault und dekadent.
Ich bin nicht dieser Meinung. Es gibt durchaus positive und negative Entwicklungen. Wie sieht das Fazit aus?
Ich bin ziemlich alt und kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen es als ausgemacht galt, dass Schwule verächtlich und Schwarze intellektuell minderwertig sind. Selbst als die ersten italienischen Gastarbeiter in den 60iger Jahren nach Deutschland kamen, wurde ernsthaft diskutiert, wie man mit ihnen umzugehen hätte («Vorsicht! Niemals Negatives über ihre Schwester sagen, sie könnten ein Stiletto-Messer haben!» – So etwas wurde allen Ernstes verbreitet!).
Damals haben wir bei unserem Familien und Bekannten dagegen angekämpft, und zwar durchaus nicht ohne Erfolg. Heute, wo Schwulenfeindlichkeit und Rassismus auf nie gekannten Tiefs in unserer Gesellschaft gesunken sind, versuchen uns ein paar geschichtsvergessene Spinner einzureden, dass der Kampf gegen solche Phänomene nötiger sei denn je. Diese merkwürdigen Menschen realisieren nicht, oder wollen nicht realisieren, dass sie im Grunde mehr oder weniger offene Türen einrennen, im Vergleich zu früher. Es geht denen um narzisstische Selbsterhöhung, nicht um die Sache.
Denn es gibt durchaus Fortschritt. –
– Ist der Begriff der Dekadenz deshalb abzulehnen, wie es die meisten Historiker heute tun? Ich glaube nicht.
Grosse Denker (nicht nur Gibbon, sondern z.B. auch Montesquieu, siehe ‘Considérations sur les causes de la grandeur des romains et de leur décadence’, von 1734) waren überzeugt, dass es qualitative Entwicklungen im Zustand von Kulturen gibt.
Schon die alten Sumerer scheinen dieses Konzept gekannt zu haben (siehe Samuel Noah Kramer, «L’histoire commence à Sumer, 1956; Kap. 28, es gibt eine englische Version).
– Heutige Historiker lehnen dies meist ab.
Einige argumentieren, dass der unbezweifelbare Verlust an Literatur-, Kunst- und Architekturproduktion (siehe z.B. Wikipedia-Artikel «Bücherverluste in der Spätantike»). in der römischen Endzeit aufgehoben würde durch hochkomplexe Philosophien über z.B. die Natur Christi («Christologie»).
– Wer sich aber diese «Christologie» anschaut, der kann den Eindruck bekommen, dass damals auf diesem Feld ähnliche bizarre Spinner unterwegs waren wie in der heutigen Gender-Theorie. Ich empfehle dringend, sich da kurz einzulesen, wenn man vor Irrsinn keine Scheu hat (aber als Heutiger ist man ja einiges gewöhnt). .
– Ward-Perkins hat mit diesen bizarren Vorstellungen (es hätte keinen römischen Niedergang gegeben) eigentlich aufgeräumt («The Fall of Rome and the End of Civilization», 2005).
– Aber die Gegner dieser Erkenntnis können nicht zulassen, dass «Migration» – so werden die Barbareneinfälle in Italien vor 2000 Jahren jetzt interpretiert – als etwas Negatives gesehen wird (ich sehe durchaus ein, dass der «record» gemischt ist:
ohne Figuren wie Ricimer und Stilicho wäre das Ende Roms schon weit früher gekommen).
– Das Hauptproblem der Verleugner von Dekadenz ist aber eigentlich ihre eigene Argumentation. Sie sagen, in der Mehrheit, dass man einen moralischen Standpunkt einnehmen müsse, um vergangene Epochen als ‘dekadent’ klassifizieren zu können. Sie übersehen dabei aber, in typisch linker Ausblendung logischen Denkens, dass es EBENFALLS eines moralischen Standpunktes bedarf, um Fortschritt als inhärent gut zu empfinden (eigentlich hat Edmund Burke dazu das Nötige gesagt).
– Der Begriff der Dekadenz ist also nicht modern, ich habe ja Kramer, Montesquieu, Gibbon schon erwähnt. Flavius Vegetius (De re militari) beklagt, dass in der späteren Zeit des alten Roms militärische Selbstverständlichkeiten, wie sie die frühen Legionäre auf sich genommen hätten, den jungen Leuten nicht mehr zuzumuten seien.
Cato der Ältere und Juvenal sprachen von Dekadenz, teilweise aber auch in Verteidigung überlebter Traditionen.
– Übrigens ist es durchaus hochinteressant zu schauen, ob den alten Römern ihre Dekadenz, ihr Niedergang, bewusst war: Wenn man einzelne antike Stimmen, besonders aus dem heutigen Frankreich, betrachtet, dann ist das völlig strittig. Einige sahen das so , andere stritten das vehement ab. Es war ganz ähnlich wie heute in Bezug auf unsere Migration. Einige sagten, die «Barbaren» seien so gut integriert, dass man sie gar nicht bemerken würde, andere behaupteten das Gegenteil.
– Man darf wohl mutmassen, dass es auf den sozialen Stand des Beobachters ankam, welche Meinung er vertrat.
Nicht viel anders als heute, wo eine urbane Geisteswissenschafts-«Elite» einen völlig anderen Mindset hat als die Mehrheit der Gesellschaft.
– Kommen wir zurück auf ‘Verblödung’.
Wie soll man es denn nennen, wenn eine Aussenministerin, eigentlich ein unerfahrenes, frisch studiertes «Gäns’chen», die Gepflogenheiten der internationalen Diplomatie umkrempeln will im Sinne einer «feministischen Aussenpolitik»?
Wenn sie – ganz offenbar in Unkenntnis der bluttriefenden Geschichte Benins (siehe Klonovskys ‘acta diurna’ zum Thema – dortige historische Hinweise sind von mir) – es als «moralische antikolonialistische Pflicht» empfindet, die Bronzen zurückgeben zu müssen, die man keineswegs gestohlen hat?
Wenn man das Bismarck-Bild aus dem AA entfernt?
Wenn man als Kinderbuchautor erst einmal alle Fachleute aus dem Wirtschaftsministerium entfernt oder kaltstellt, und sie durch grüne Aktivisten ersetzt? Von denen dann einer das schwachsinnigste Gesetz entwirft, das in der Geschichte Deutschlands je konzipiert worden ist?
– Wenn man alles national mögliche tut, um Bauen zu verhindern, sich dann aber wundert, dass die Bauindustrie einbricht?
– Wenn man überhaupt eine nationale Energiewende einführt, in Kenntnis der Tatsache, dass Deutschland nur für weniger als 2% des Welt-CO2-Ausstosses verantwortlich ist?
– Ich bezeichne diese Einzelmassnahmen (von Gender will ich gar nicht erst sprechen) in einem Masse als verblödet, dass man es eigentlich nur als soziale Dekadenz ansehen kann.
– Wir leben im dekadentesten, verblödetsten, Deutschland, dass wir je hatten. Und das ist tröstlich. Denn auf Dekadenz folgt der Niedergang, und darauf möglicherweise (!) ein Neuanfang. Nun ja. Vielleicht.
Und wenn nicht, haben wir es verdient, im Mülleimer der Geschichte zu verschwinden.
Werner Bläser
19. Juni, 2023Ich glaube durchaus, dass in den letzten Jahrzehnten nicht ALLES schief gelaufen ist in Deutschland. Nur das meiste. Das Niveau der öffentlichen Diskussion und der Politik allgemein scheint mir jedenfalls auf einem nicht mehr unterbietbaren Level der Verblödung und Dekadenz zu sein. Ich hoffe, dass dies nur den Phänotyp Deutschlands betrifft, nicht den Genotyp – ich bin gelegentlich ein schrecklicher Optimist. Was meint Ihr? Gibt es noch Hoffnung, dass wir uns aus diesem Mist befreien?
Bernd Zeller
20. Juni, 2023Die Hoffnung ist letztens gestorben.