Das Zeitalter der großen Endzeitbeschleunigung – eine kurze Geschichte samt Ausblick
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Das „grüne Schrumpfen“ und Rationierung sei nötig, um den Klimakollaps noch zu verhindern – diese Ideologie findet in Deutschland eifrige Fürsprecher. Ihre historischen Wurzeln reichen allerdings weit vor das Klimathema zurück. Die Überschriften der Apokalypse lauteten damals anders. Die Rettungsvorschläge blieben gleich – genauso wie die Figur des „guten Hirten“
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 35 min Lesezeit
Im Juli 2021 erschien in der taz ein Streitgespräch zwischen zwei Kontrahenten, die heute beide deutlich mehr Bekanntheit genießen als damals.
Es handelte sich, wie bei den meisten formatierten Diskussionen in Deutschland, nicht um ein Gespräch unter Antipoden, sondern ziemlich Gleichgesinnten, die damals nur über den Weg zu einer, wie sie beide sagten, klimagerechten Gesellschaft konferierten. Auf der einen Seite argumentierte die taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann, heute eine der bekanntesten Predigerinnen der autoritären Schrumpfungslehre. Auf der anderen Patrick Graichen, damals noch Chef der „Agora Energiewende“. Die innergrüne Debatte fand damals gewissermaßen hinter einem Vorhang statt, gedacht nur für das eigene Milieu. Ihre öffentliche Resonanz hielt sich damals in Grenzen. Deshalb sollte sie noch einmal aus dem Archiv ins Licht.
In dem Gespräch erledigt Herrmann eine Beruhigungsformel der Transformationsingenieure nach der anderen. Gleich am Anfang widerspricht sie der Behauptung, gerade der Verzicht auf fossile und nukleare Energieerzeugung, die Umstellung von Verkehr und Heizung auf Strom und der Industrie auf Wasserstoff setze neues Wachstum frei. „Grünes Wachstum“, so Herrmanns Befund, „ist nicht möglich“.
Sie rechnet auch vor, dass eine ausschließliche Energieerzeugung aus Wind, Sonne und Pflanzengas nicht zu der Industriegesellschaft passt, die in Deutschland noch existiert: „Wenn wir bis 2045 oder gar 2035 klimaneutral sein wollen, bleibt sehr wenig Zeit. Heute liegt der Anteil der Erneuerbaren am gesamten Energieverbrauch bei etwa 17 Prozent. Es ist völlig unklar, wie das in 30 Jahren auf 100 Prozent steigen soll.“
Graichen hält dagegen, das ginge durch „die Halbierung des Gesamtenergieverbrauchs“ sehr wohl. Was wiederum überhaupt nicht zu den Plänen der Gesamtelektrifizierung passt, an denen er später als Staatssekretär unter Robert Habeck arbeitete. Laut Habeck soll die deutsche Stromerzeugung von derzeit etwa 550 Terawattstunden bis 2030 auf etwa 750 Terawattstunden steigen. Das müsste sie auch, um den Strom für all die Wärmepumpen, Elektroautos und vor allem Wasserstofferzeugungsanlagen herzustellen. In seiner Argumentation widerspricht der Agora-Vertreter anderen Denkfiguren, die aus der gleichen ideologischen Produktion kommen. Und das nicht nur einmal. In einem Fall weist er sogar selbst auf eine erhebliche Lücke zwischen Plan und Wirklichkeit hin. „Die eigentliche Herausforderung“, meint er, „ist der Gebäudesektor, denn da muss der Energiebedarf wirklich halbiert werden. Und bisher ist noch nicht geklärt, wo all die Handwerker dafür herkommen sollen.“
Eine plausible Antwort bietet er nicht. Nach seinem vorübergehenden Wechsel in die Bundesregierung stellte er bekanntlich auch die Frage nicht mehr.
Als nächstes räumt Herrmann in dem Gespräch die Dauerwerbebehauptung beiseite, Wind- und Solarenergie wären im Vergleich zu allen anderen Erzeugungsarten unschlagbar günstig. „Man würde“, meint die taz-Mitarbeiterin zu Graichens Vorstellung von einer fantastischen Effizienzsteigerung, „dann damit nur die jetzige Produktion energieeffizienter angehen, das ist noch kein grünes Wachstum. Erneuerbare Energien sind außerdem teurer als die jetzige fossile Energie. Und der Kapitalismus braucht dringend billige Energie für sein Wirtschaftswachstum.“ Und weiter: „Aus meiner Sicht ist Energie alles. Ohne billige Energie hätte es den Kapitalismus nicht gegeben. Und Wachstum ohne billige Energie ist nicht möglich. […] Das Problem ist die Speicherung der Ökoenergie. Die Industriegesellschaft kann nicht stillstehen, sobald kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Mindestens zweimal im Jahr produzieren Wind- und Solarenergie mindestens zwei Tage lang fast gar nichts.“
Ressourcen sind im Westen und inzwischen fast weltweit nicht wirklich billig. Aber Herrmann trifft mit ihrer Feststellung den wesentlichen Punkt, dass die Höhe des Energiepreises darüber entscheidet, ob ein Land seinen Wohlstand halten kann. Und für andere Regionen, ob sie es schaffen, der Armut zu entkommen.
Herrmanns bemerkenswerter Schluss – und zwar der, der sich von der Argumentationsoberfläche grüner Regierungspolitik am deutlichsten unterscheidet – läuft darauf hinaus, dass eine westliche Bevölkerung unter den Bedingungen von Wahlen und freien Entscheidungen ein schrumpfungs- und Verarmungsprogramm nicht freiwillig mitmachen würde. „Niemand“, so ihre Argumentation, „sitzt in der Uckermark, wenn er nach Mallorca kann. Wenn man aber kein Energiegeld zahlt, können ärmere Leute nicht mehr fliegen – während es sich Reiche mühelos leisten können. Diese Ungerechtigkeit wäre in einer Demokratie nicht durchzuhalten: Wer nicht mehr fliegen darf, ist morgen bei der AfD. Bleibt also nur die Rationierung. Jeder bekommt einen Flug zugeteilt. Auch andere knappe Güter wird man rationieren müssen. So wird sich die Frage stellen, wer noch Auto fahren darf.“ Es wären ganz nebenbei noch ein paar andere Möglichkeiten nötig, etwa eine Art proklimatischer Schutzwall, der verhindert, dass Bürger und damit Steuerzahler massenhaft dorthin auswandern, wo eine Regierung sie nicht unter Totalkontrolle stellt. Graichens Handwerkerproblem würde sich damit erheblich verschärfen.
Natürlich wäre Herrmanns Gesellschaft eine Diktatur, noch nicht einmal eine weiche, sondern eine Ordnung, die sogar noch tiefer in das Privatleben jedes Einzelnen eingreift als die untergegangene Herrschaftsform im Ostblock. Anders als dort stünde auch kein gehaltloses Wohlstandsversprechen am Anfang, sondern gleich die Ankündigung von Enteignung, Überwachung und Strafe. Die in Deutschland und anderswo seit Generationen auftretende Figur des „guten Hirten“ (Karl Heinz Bohrer) mäße in Zukunft also den in Heloten verwandelten Bürgern jedes einzelne Gebrauchsgut zu. In dieser Welt müssten Helfer des Hirten natürlich mit dem CO2-Argument auch jeden Schwarzmarkt verfolgen, jede Schwarzheizung und jedes illegale Huhn auf dem Balkon. Aber bei aller Menschenfeindlichkeit lässt sich nicht abstreiten, dass Herrmann ein wirklich stringentes Modell entwirft, anders als Graichen, der den Staat zwar zum gleichen Endzweck umbauen möchte wie sie, bei Weg und Mitteln dorthin aber vage und widersprüchlich bleibt.
In ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ geht Herrmann ins Detail, beispielsweise, indem sie einen Einheitsspeiseplan entwirft, der „500 Gramm Obst und Gemüse, 232 Gramm Vollkorngetreide oder Reis, 13 Gramm Eier und 7 Gramm Schwein“ vorsieht. „Auf den ersten Blick“, schreibt sie, „mag dieser Speisezettel etwas mager wirken, aber die Deutschen wären viel gesünder, wenn sie ihre Essgewohnheiten umstellten. Rationierung klingt unschön. Aber vielleicht wäre das Leben sogar angenehmer als heute, denn Gerechtigkeit macht glücklich.“
Für Selbstgerechtigkeit trifft das auf jeden Fall zu, wie jedes Porträtfoto der taz-Autorin beweist.
In den siebziger und achtziger Jahren begründeten die westdeutschen Linken ihren Kampf gegen die Atomenergie mit dem Argument, die Kernkraftwerke mit Endlagern und dem nötigen Sicherheitsapparat führten zwangsläufig in den ‚Atomstaat‘ und damit zum Ende der Demokratie. Bekanntlich transformierte die Nukleartechnik weder Deutschland, Frankreich, Finnland noch andere Staaten in eine technokratische Diktatur. Die historische Pointe liegt darin, dass gerade ein Staat ohne Kernkraft, fossile Kraftwerke, Kraftstoffe und deshalb ohne ausreichend Energie sehr viel wahrscheinlicher auf genau diese Rutschbahn gerät, die im rationierten Glück durch Armut endet.
Auffälligerweise stehen die Kapitalismusverächter und Ressourcenzuteiler untereinander im harten Wettbewerb um Auflagen und Talkshowpräsenz. Neben Herrmann wirbt die Schrumpfpredigerin Maja Göpel für eine neue Ordnung durch Umverteilung; auf dem evangelischen Kirchentag ruft Heinrich Bedford-Strohm zur „schöpfungsgerechten Fortbewegung“ auf, wobei er vermutlich nicht seinen früheren Dienstwagen meint, einen BMW Plug-in Hybrid 745Le Drive, Listenpreis 106400 Euro. Jedenfalls nicht für alle. Entsprechende Verzichtsermahnungen gibt es bekanntlich auch in einer Art Dauerschleife von den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die, ganz nebenbei, ab 2025 einen deutlich höheren Rundfunkbeitrag fordern.
Wenn eine Bewegung zwar bis jetzt noch keine Breite in der Bevölkerung gewinnt, aber sehr deutlich an Macht, dann rückt nach der Zustandsbeschreibung die Frage in den Mittelpunkt, wo die Wurzeln ihrer Ideologie liegen. So viel vorab: Sie reichen weit hinter die Klimadebatte zurück, sogar weit hinter den Club of Rome. In einer Hinsicht arbeiten Herrmann, Göpel und andere wirklich ressourcenschonend. Denn buchstäblich nicht ein Komma von dem, was sie vortragen, ist neu. Sie hantieren ausschließlich mit wiederaufbereiteter, bestenfalls neu abgemischter Importware, die nach 1945 entstand, und zwar fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten.
Warum markiert gerade die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Beginn einer Denkschule, die Pascal Bruckner viele Jahrzehnte später – in kritischer Absicht wohlgemerkt – mit „sauver la terre, punir l’homme“ zusammenfasste, ‚die Erde retten, den Menschen bestrafen‘?
In der Wirtschaftsgeschichte gelten die Jahre zwischen 1914 und 1945 als Phase der großen globalen Unterbrechung. Nach dem steilen Produktivitätsanstieg ab 1880 flachte sich die Wachstumskurve bei Konsum, Ressourcenverbrauch und vielen anderen Kennzahlen in den Industrieländern in dieser Zeit von zwei Weltkriegen, Spanischer Grippe und Depression deutlich ab. Die Rüstungsindustrien stießen zwar bis dahin unvorstellbare Gütermengen aus, allerdings bestimmt zur möglichst schnellen wechselseitigen Vernichtung. Als nach 1945 die aufgebauten Industriekapazitäten für das zivile Leben produzierten, schoss das globale Sozialprodukt, der Konsum, der Energie- Wasser und Düngerverbrauch und das Bevölkerungswachstum steil in die Höhe. Das vor allem in den Industriestaaten, aber auch, wenn auch in sehr viel bescheidenerem Maß, in früher abhängigen Großregionen wie Indien. In dem Phänomen, das Umwelthistoriker später „The Great Acceleration“ nennen sollten, die ‚Große Beschleunigung‘, sah eine ganze Reihe von Theoretikern eine katastrophale Fehlentwicklung. Die Wohlstandszunahme in ihren westlichen Ländern machte ihnen Sorge, noch mehr aber die Aussicht, dass sich auch für ehemals unterworfene Länder die Chance öffnete, der Armut zu entkommen.
Als einer der ersten aus dieser Intellektuellenriege verfasste der amerikanische Umwelttheoretiker William Vogt 1948 das Manifest „Road to Survival“ („Der Weg des Überlebens“), in dem er den Untergang der Zivilisation vorhersagte, sollte es nicht gelingen, Bevölkerungs- und Wohlstandswachstum durch entschiedene Eingriffe zu bremsen. Und das nicht überall, sondern zunächst erst einmal dort, wo sich erste zarte Spuren des Armutsrückgangs zeigten. Vogt warf dem britischen Kolonialregime vor, die Lebensbedingungen auf dem indischen Subkontinent in unverantwortlicher Weise verbessert zu haben. „Vor der Pax Britannica“, schrieb er, „zählte Indien eine Bevölkerungszahl von weniger als 100 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl wurde in Balance gehalten durch Krankheit, Hungersnot, Gewaltsame Auseinandersetzungen. In bemerkenswert kurzer Zeit gelang es den Briten, den gewaltsamen Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen, Hungersnöte erheblich zu reduzieren, indem Bewässerungssysteme gebaut, Vorratsspeicher angelegt und Nahrungsmittel in schwerer Zeit importiert wurden. Während wirtschaftliche Konditionen und Hygieneverhältnisse verbessert wurden, blieben die Inder bei ihren Gewohnheiten und vermehrten sich mit der Verantwortungslosigkeit des Kabeljaus.“
In seinem enorm einflussreichen und vielfach übersetzten Buch stellte Vogt also nicht die zivilisatorischen Errungenschaften in den USA und anderswo im Westen in Frage. Er fand nur, dass außerhalb dieser Zone radikal schlechtere Bedingungen herrschen sollten. Anders sei es nicht möglich, das natürliche Gleichgewicht zu erhalten. Es ging nicht darum, um Pascal Bruckners Wort zu bemühen, alle Menschen zu bestrafen, sondern nur bestimmte, denen Vogt und kurze Zeit später andere Vordenker einen geringeren Wert zumaßen als ihnen selbst. Bei Willam Vogt handelte es sich um einen Pionier dieser Denkschule. Zum intellektuellen Star stieg etwas später der Biologe Paul Ehrlich mit seinem Buch „The Population Bomb“ („Die Bevölkerungsbombe“) auf, 1968 herausgegeben und mit einem starken Echo versehen durch den einflussreichen Sierra Club unter seinem damaligen Präsidenten David Brower. In dem Doomsday-Stil, der Jahrzehnte später auch die Klimadebatte bestimmen sollte, stellte Ehrlich fest, „die Schlacht, die gesamte Menschheit zu ernähren“, sei schon verloren. Es könnte nur noch um Notprogramme gehen, um das Allerschlimmste zu verhindern. Sein Rettungsvorschlag sah eine strikte Kontrolle des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachswachstums durch Aufsicht, Verteilung und Rationierung vor. In seinem Buch und seinen späteren Äußerungen nahm er nicht nur die Entwicklungsländer in den Blick, sondern auch den Westen selbst.
Der Sierra Club, 1892 von John Muir als Naturschutzorganisation gegründet, wandelte sich vor allem unter Brower zu einer Organisation, die sich mehr und mehr der Gesellschaftspolitik widmete. Sie wand sich in seiner Amtszeit grundsätzlich gegen Kernkraft (später auch gegen größere Wasserkraftanlagen, gegen Fracking, gegen Kohleverstromung sowieso). Heute handelt es sich bei dem Sierra Club um ein politisch-wirtschaftliches Konglomerat; er vertreibt Solaranlagen, unterhält eine eigene Geldsammelorganisation zugunsten von Bewerbern der demokratischen Partei und konzentriert sich auf Wachstumskritik. Umweltschutz spielt eher aus Traditionsgründen noch eine kleinere Rolle. In seiner Entwicklung steht er idealtypisch für ein Muster, das sich so ähnlich fast überall in der westlichen Degrowth-Ideologie zeigt: Angehörige der (weißen) Ober- und Mittelschicht machen sich Gedanken darüber, wie sich Ärmere unter Berufung auf die Natur am besten vom Wohlstand fernhalten lassen.
Paul Ehrlich und ein anderer von David Brower unterstützter Theoretiker, der Autor und Physiker Amory Lovins kamen schon in den siebziger Jahren zu dem Schluss, den Ulrike Herrmann Jahrzehnte später nur wiederholte: dass Energie die Schlüsselrolle für eine Politik der Wachstumsbremsung spielt. Lovins entwickelte das Konzept des „soft path“, des „weichen Wegs“, für den er nur Solar- und Windenergie als zulässig erachtete – was faktisch, da er nie darlegte, wie die nötigen Energiemengen bei wetterabhängiger Erzeugung gespeichert werden sollten, auf die Vorstellung eine Niedrigenergiegesellschaft hinauslief. Den engen Zusammenhang zwischen einem knappen und nicht zu günstigen Energieangebot und einer Wohlstandsbegrenzung stellten beide selbst ausdrücklich her. „Es wäre fast schon desaströs“, so Lovins, „wenn wir eine billige, saubere, ausgiebige Energiequelle fänden, wenn man sich nur vorstellt, was wir damit anstellen würden.“ In “An Ecologist‘s Perspective on Nuclear Power“ schrieb Ehrlich 1975: „Die Menschen mit billigem Strom im Überfluss zu versorgen wäre tatsächlich so, als drückte man einem dummen Kind ein Maschinengewehr in die Hand.“ Nirgendwo außerhalb der USA erfuhr Lovins eine größere Anerkennung als in Deutschland, wo er 2016 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhielt, und zwar mit der ausdrücklichen Würdigung, er habe das intellektuelle Fundament für die deutsche Energiewende gelegt. Das trifft auch zu. Kein anderes Industrieland der Welt folgte bisher seiner Empfehlung, eine Volkswirtschaft nur auf Solar- und Windenergie umzustellen.
Ganz allmählich verschob sich die Begründung dafür, warum Wohlstand im Interesse höherer Ziele so dringend begrenzt werden mussten. Als Ehrlichs „Bevölkerungsbombe“ 1968 erschien, bremste Chinas Führung schon nach und nach das Bevölkerungswachstum mit ihrer Zweikind-Politik. In den westlichen Ländern ging die Geburtenraten nach Einführung der Pille zurück. Die eben noch als unausweichlich beschriebene Überbevölkerungskatastrophe rückte also allmählich aus dem Zentrum des apokalyptischen Denkens, um Platz für eine mit ganz ähnlicher Rhetorik beschworenen neue Endzeitvorstellung zu schaffen, dem bevorstehenden Ende fast aller natürlicher Ressourcen. Diese Idee hob der „Club of Rome“ ab 1972 auf die internationale Debattenbühne. Nach den damaligen Berechnungen, durchgeführt vom MIT (Massachusetts Institute of Technology), würden die Goldvorräte höchstens bis 1981 reichen, Quecksilber bis 1985, 1992 das letzte Fass Erdöl gefördert, 1994 unweigerlich der letzte Kubikmeter Gas, 1993 das letzte Kilo Kupfererz.
Die Rezepte dagegen glichen grundsätzlich denen gegen die Bevölkerungsbombe, nämlich Kontrolle, Wohlstandsbegrenzung, außerdem, und das noch ausgeprägter als bei Ehrlich, Rationierung und Verteilung durch eine Elite, die am besten wusste, wem weltweit wieviel Rohstoffe zustanden. Als sich sämtliche Voraussagen vom schnellen Ende der Rohstoffe als falsch herausstellten, stieg ab den neunziger Jahren die dritte große Endzeiterzählung im „Zeitalter der Beschleunigung“ auf: die Lehre vom unmittelbar bevorstehenden Klimakollaps durch Kohlendioxidemissionen. Die Maßnahmen lauteten auch hier: möglichst strenge Gesellschaftslenkung, Wachstums- und Wohlstandsrestriktionen. Je weiter sich das Denkgebäude entwickelte, desto lauter erhob sich die generelle Forderung, den Kapitalismus als Kern des Übels abzuschaffen, wenigstens aber den Schwellenländern nicht den gleichen Zugang zum Wohlstand zu erlauben. Hier führt ein sehr direkter Weg vom Brundtland-Report der Vereinten Nationen von 1987, der die Kernkraft für Entwicklungsländer als riskant und problematisch beschrieb, bis zu dem Auftritt von Luisa Neubauer, die am Rand der Klimakonferenz in Ägypten 2022 auf den EU-Kommissar Frans Timmermans einredete, um ihn davon zu überzeugen, Gasförderungsprojekte in Afrika zu verhindern.
Erst mit dem Rückblick auf den Ausgangspunkt der „Großen Beschleunigung“ – also die Zeit um 1945 bis 1950 – zeigt sich ein spätestens seit den Endsechzigern Denkmuster, bei denen die Überschriften wechseln, der Text darunter aber weitgehend konstant bleibt. Immer stellen westliche Technokraten und Intellektuelle aus der Mittel- und Oberschicht die Diagnose, immer steht die globale Katastrophe unmittelbar bevor und die Uhr deshalb fünf Sekunden vor zwölf. Immer lässt die Beweisführung keinen Platz für den geringsten Zweifel, jedes Mal konnte es sich bei denjenigen, die sich dem Ratschluss nicht bedingungslos unterwerfen, nur um Ignoranten und Böswillige handeln. Und spätestens seit den Siebzigern lautet der alternativlose Rat Lenkung, Planung, Rationierung, Zuteilung von Lebenschancen. Die darunterliegende Grundüberzeugung lässt sich am besten als Misstrauen gegen das selbständige Individuum beschreiben. Menschen sind demnach nicht zur Freiheit begabt; bekommen sie zu viel davon – und dieser Punkt ist schnell erreicht – dann richten sie damit nur Schaden an. Zu ihrem eigenen Besten bedürfen sie deshalb der Aufsicht durch die guten Hirten, die über bessere Einsichten verfügen als der Rest.
Zu der Begriffsprägung „Große Beschleunigung“ kam es übrigens ziemlich spät und retrospektiv auf der öffentlich nur wenig wahrgenommenen Dahlem-Konferenz zur „History of Human-Environmental Relationship“ 2005. Der Umwelthistoriker Will Steffen, einer der prägenden Figuren dieser Konferenz, schrieb später, die Wortschöpfung sei ein bewusster Rückgriff auf das Werk „The Great Transformation“ des Ökonomen Karl Polanyi von 1944 gewesen (auch diese Formel erfuhr also durch Klaus Schwab mindestens ihre Drittverwertung). Polanyi stellt darin dem Kapitalismus eine ungünstige Prognose, da er die Ungleichheit verstärke und schließlich in seinen Konflikten untergehen würde. Als Alternative empfahl er Wirtschaftslenkung jenseits des Marktes.
Zu keiner Zeit unternahmen diejenigen, die unter wechselnder Themenherrschaft eine Rettung der Welt vor den Menschen predigten – genauer: vor einer bestimmten Sorte Menschen – den Versuch einer gewissermaßen innerhumanen moralischen Begründung, warum bestimmten Ländern, Regionen und Personen weniger Lebenschancen zustehen sollten als anderen. Hier von einem blinden Fleck zu sprechen wäre untertrieben. Es handelt sich um ein blindes Zentrum im Inneren dieses Überzeugungssystems. Genauso wenig bemühen sich seine derzeitigen Verfechter, den Widerspruch zwischen einer Rationierungsgesellschaft nach dem Muster von Herrmann und den migrationspolitischen Vorstellungen aufzulösen, die in diesem politischen Milieu gleich in der Nachbarschaft siedeln. Denn die Präambel der Herrmannschen Zuteilungsgesellschaft kann nur lauten: Es gibt schon für diejenigen, die jetzt hier leben, nur sehr, sehr wenig Platz und Güter. Das Thema des Bevölkerungszuwachses in Afrika spricht auch keine Luisa Neubauer an, denn erst hier und nicht schon bei der Agitation gegen Gasförderung in Senegal zieht ihr das antirassistische Dogma die rote Linie. Nichts spaltete übrigens schon vor Jahrzehnten die Mitglieder des Sierra Clubs so sehr wie die Frage der Einwanderung in die USA.
Bei der Vorstellung, die Gesellschaft müsste zur Rettung der Natur von wissenden Hirten geleitet werden, handelt es sich um eine radikale Ungleichheitslehre und das seit ihren Ursprüngen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die große Rechtfertigung von der Weltrettung durch Wohlstandsverzicht ganzer Weltregionen spiegelt sich im Kleinen der westlichen Gesellschaften maßstabgetreu wider. Ob nun Luisa Neubauer, die in ihrem Leben mehr Flugmeilen zurücklegte als fünf Arbeiterfamilien zusammen, ob die Fernsehfigur Joko Winterscheidt, bisher vor allem mit PS-starken Autos, Hubschraubern und ähnlich CO2-intensivem Gerät auf Sendung, die jetzt gerade eine Klimarettungsserie produziert – selbstredend wieder mit reichlich Flugverkehr – ob Robert Habeck, wöchentlich unterwegs mit Dienstlimousine und Helikopter zur Einweihung eines Windparks und zwischendurch mit dem Kleinflugzeug nach Davos, um dort neue „Freiräume durch Nachdenklichkeit“ (Jürgen Kaube) zu eröffnen – fast jeder gute Hirt zeichnet sich durch einen ums vielfache größeren Kohlendioxidfußabdruck aus als diejenigen, die sie zur strengen Diät auffordern. In die Kategorie gehört auch der FAZ-Feuilletonautor, der am 10. Mai 2023 in einem Text über eben jene „Große Beschleunigung“ schrieb:
„Die universalisierte Figur des Spießers, der sich mit seinem kleinen Glück begnügt, und dem gewiss nichts ferner liegt, als die Welt zu verändern, könnte sich als die gefährlichste Spezies erweisen, welche die Erde in ihrer viereinhalb Milliarden Jahre langen Geschichte beheimaten sollte.“
Interessant daran wirkt vor allem, dass der Autor den von ihm verachteten Spießer, der für sich nur ein kleines Stück Wohlstand und Sicherheit wünscht, als eigene Spezies innerhalb der Menschheit anspricht. Aber das folgt nur konsequent aus der Haltung, anderen per Definition nicht die gleichen Glücks- und Artikulationschancen einzuräumen, die der FAZ-Redakteur selbst beansprucht. Er dürfte auch ahnen, dass sein Lebensstil mit Fernreisen und einem gehaltsangemessenen Konsum vermutlich mehr Ressourcen verbraucht und CO2 emittiert als der Spießer mit seinem Holzkohlegrill auf dem solarkraftwerkslosen Balkon. Wenn es einerseits so etwas wie ein blindes Zentrum in diesem Denken gibt, dann auch ein unausgesprochene, aber immer innerlich mitgesummtes Credo: Ich rechtfertige meinen Wohlstand, indem ich den von Ärmeren bekämpfe. Und das natürlich nicht aus kultureller Verachtung, sondern zur Rettung von Mutter Gaia.
Ulrike Herrmann fällt nicht nur durch ihre brutale Ehrlichkeit beim Entwurf des Rationierungsparadieses etwas aus dem Raster, sondern auch dadurch, dass sie sich tatsächlich nicht viel aus materiellen Dingen zu machen scheint. Ihr Speiseplan deutet auf ein entschieden antihedonistisches Naturell hin, gegen das es nichts einzuwenden gibt, solange sie es jemand anderem nicht aufzudrängen versucht.
Die beiden Doomsday-Varianten Bevölkerungsbombe und Rohstoffversiegen erschöpften sich als Thema, siehe oben, nach einiger Zeit. Sie verflüchtigten sich nicht völlig, bildeten aber nicht mehr die Überschrift für die Weltlenkungsphantasie, nachdem sie ihren Fünf-Sekunden-vor-Zwölf-Ruhm hatten. Auch dem Klimaendzeitglauben steht diese thematische Erschöpfung bevor. Nicht gleich morgen, aber was seine Parolen und Gesten angeht, befindet er sich etwa im letzten Viertel seiner Laufzeit. Ein neues Großproblem drängt schon langsam herauf, das der alternden Gesellschaften. Es betrifft nicht nur alle westlichen Länder ab spätestens 2030, sondern bald auch China. Selbstverständlich handelt es sich um ein schweres und ernsthaftes Problem. Das galt ja auch für die rapide Bevölkerungszunahme nach 1950, für den Umgang mit Rohstoffen. Und auch Klimaveränderungen können Länder und Regionen schwer und negativ treffen. Nur findet sich eben historisch kein einziges Beispiel, dass jemals eine technokratische Priesterkaste mit zentraler Lenkung, mit Rationierung, Technik- und Marktfeindlichkeit und verordneter Armut für andere etwas zum Besseren gewendet hätte.
Trotzdem stehen die Chancen gut, dass auch in der kommenden Demographiekrise der gleiche Typus des Hirten wieder auf die Podien klettern und verkünden wird, dass die Welt sich nur mit ihrem Großlenkungsplan und seinen immergleichen Instrumenten retten lässt.
Ihr Überzeugungssystem funktioniert deshalb so robust, weil es sich von vornherein nicht auf Erkenntnis, sondern auf Macht und Rechtfertigung richtet. Vor allem das Rechtfertigungsbedürfnis sollte niemand unterschätzen. Denn die Retter vor der Endzeitkatastrophe erleiden Zyklus für Zyklus gleich zwei narzisstische Kränkung. Einmal dadurch, dass ihre Prognosen immer wieder an der Wirklichkeit abprallen und ein anderes mal deshalb, weil eine Mehrheit der Bürger es zu allen Zeiten ablehnte, sich den guten Führern freiwillig zu unterwerfen.
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
18 Kommentare
Original: Das Zeitalter der großen Endzeitbeschleunigung – eine kurze Geschichte samt Ausblick
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14. Juni, 2023Ich zitiere:»…deshalb, weil eine Mehrheit der Bürger es zu allen Zeiten ablehnte, sich den guten Führern freiwillig zu unterwerfen.»
Stimmt leider nicht ganz, wenn man z.B. bei Deutschland bleibt (anderswo ist es aber durchaus genauso gewesen): Mit genügend Macht, Verbildung, dem gegenseitigen Ausspielen haben es verschiedene «Endzeit-Prädikanten» immer wieder geschafft, dass ihnen eine Mehrheit hinterher rannte (es hätte z.B. Adolf H. nicht gegeben). Man kann nur hoffen, dass das gegenwärtige Bemühen dieser Figuren, das besonders von Verbildung (oder Unbildung) des Staatsvolkes getragen und immer intensiverer wird, doch ins Leere läuft.
Die Verbildung bei denen, die sich gegenwärtig als «gute Hirten» sehen (oder von anderen so gesehen und bezeichnet werden) ist glücklicherweie (kann man das so sagen?) so groß, dass sie oft in Widerspruch zu Leitsätzen geraten, die sie selbst verkündet haben oder verkünden und vertreten. Und das fällt durch bloßen Vergleich auf, dazu muss man nicht bis zu deren wissenschaftlichen Grundlagen vordringen.
Darauf hoffe ich immer noch: Dass die Handelnden über ihre eigene arrogante Borniertheit zu Fall kommen («Was kümmert mich mein Geschwätz…»).
Danke für Ihre Artikel, Herr Wendt.
Kira
15. Juni, 2023«Bei der Vorstellung, die Gesellschaft müsste zur Rettung der Natur von wissenden Hirten geleitet werden, handelt es sich um eine radikale Ungleichheitslehre»
Darin zeigt sich zugleich auch die konzeptuelle Dissonanz, denn parallel dazu ist «Gleichheit» ein zentrales Dogma dieser «Hirten» -Kaste. Diese Doppelmoral zieht sich wie ein roter Faden durch alle Forderungskataloge der Endzeit-Sekten.
Ich hatte beim Lesen zudem ein Aha-Erlebnis, was aus dem Christentum entlehnte Narrative anbetrifft. Sie sind eindrückliche Beispiele für die Säkularisierung christlicher Erzählungen, die den politischen Raum okkupieren.
Und tatsächlich stammen all diese Narrative aus Ländern, die vom Christentum geprägt wurden. Und selbst vollkommen atheistische Leute, die jeden Bezug zu christlichen Lehre weit von sich weisen würden, bedienen sich ihrer. Irre!
Grundsätzlich herzlichen Dank für Ihre inspirierenden Texte. Jedesmal ein Intellektueller Genuss!
Werner Bläser
14. Juni, 2023Die Endzeitvisionen sind uralt und gehen wahrscheinlich – im christlichen Kulturkreis, wo sie seit jeher en vogue sind – auf die Bibel zurück, auf die Offenbarung des Johannes. Apokalypsen anderer Kulturkreise, wie der Maya (z.B. das Tortuguero-Monument 6), beruhen meist eher auf interpretativen Missverständnissen. Obwohl der hierzulande bekannteste Apokalyptiker, Nostradamus, eher weltlich orientiert war, waren die weitaus meisten solcher Ängste religiös begründet. Vordergründig.
Zunächst ein paar Literaturhinweise: Bernard McGinn (‘Visions of the End: Apocalyptic Traditions in the Middle Ages’, 1998) hat ein nicht immer in Details gut recherchiertes Buch vorgelegt, das aber dennoch einen recht guten Überblick bietet. Wer es kürzer will, kann als ersten Einstieg Christoph Dieffenbachers ‘Visionen der Enzeit’, n.d., auf der Webseite der Uni. Basel) lesen. Michael Seiffert beschreibt im ‘Informationsdienst Wissenschaft’ (IDW) vom 29.3.99 ‘Faszinierende Vorstellungen vom Weltuntergang’.
Auch der Artikel von Rolf App, ‘Apokalyse: Unser täglicher Weltuntergang’ im St. Galler ‘Tagblatt’ vom 28.12.17 ist lesenswert. Michael Tilly, ‘Kurze Geschichte der Apokalyptik’, in ‘Aus Politik und Zeitgeschichte’, 12/2012. Christian Schüle, ‘Die Lust an der Selbstauslöschung versiegt nie’, ‘Die Welt’, 20.12.12.
Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhardt meint: «Um Katastrophen braucht man sich eigentlich nicht zu sorgen, die kommen schon. Aber vielleicht muss man sie heraufbeschwören, zeitweise, weil von selbst dauert’s zu lang.»
Bernhardt deutet damit auf die psychologischen Ursachen des Apokalyptizismus hin.
Christian Schüle (op. cit.) hat diese psychologischen Ursachen deutlicher herausgehoben.
«Es waren schon immer herrliche Zeiten für Apokalyptiker: Die nie versiegende Lust am Untergang der Welt ist eine der Konstanten in der Menschheitsgeschichte, obwohl die Welt nachweislich noch nie untergegangen ist… Ein Spezifikum der spätmodernen Lebenskultur ist das Versprechen auf Befreiung des Menschen aus dem Korsett der … Eintönigkeit des Lebens durch den Superlativ. Der Superlativ scheint das Einzige zu sein, was den erschöpften Zeitgenossen noch in Erregung zu versetzen in der Lage ist… Das Apokalyptische ist die höchstmögliche Steigerungsform… die Quintessenz der Schrecklichkeit,… die gebraucht wird, um das Richtige, wahlweise Gute in eine Welt ohne Heil zu setzen…. Zum anderen nährt ausgerechnet das apokalyptische Denken den Wahnsinn der Selbststeigerung des Individualisten unserer Tage – durch die Hoffnung… zu jenen Auserwählten zu gehören,… die vor dem Untergang gerettet werden…
Das ist die finale Form des Narzissmus in narzisstischen Zeiten und entspricht, als irrationalistische Konsequenz, der legendären Ichbezogenheit des Individuums am Ende der Postmoderne.»
Isolde Charim (‘Philosophie-Magazin’, 3.4.23) postuliert, dass der Narzissmus heute eine Art Ideologie ist. Er verschaffe ein Gefühl der Ermächtigung – narzisstische Befriedigung durch gesellschaftliche Anerkennung. –
Aber droht uns nicht wirklich der Weltuntergang? Nähern wir uns einem klimatischen «Kipp-Punkt»? Ich bin kein Klimawissenschaftler, aber ich kann vergangene Prophezeiungen registrieren und einordnen. Und da disqualifizieren sich einige «Experten», wie der unvermeidliche Mojib Lativ, von selbst. Wer sich derart oft irrt, und über seine vergangenen Irrtümer auch noch hinwegzulügen versucht, der ist nicht mehr ernst zu nehmen.
Der angesehene Klimawissenschaftler Hans von Storch jedenfalls glaubt nicht an solche Kipp-Punkte (s. z.B. ‘Deutschlandfunk’, 4.5.23, ‘Von Storch kritisiert Debatte über Kipp-Punkte’). –
Wenn man älter ist, wie ich, kann man sich an mehrere Untergangsphantasien erinnern, die zu unterschiedlichen Zeiten modern waren. Ich persönlich habe noch das Entsetzen eines grossen Teils der damals jungen Linken vor Augen, als die NATO-Nachrüstung von Helmut Schmidt durchgesetzt werden sollte. Es gab die üblichen grossen Demonstrationen mit moralisierendem Ton. «Ich habe Angst!» war damals eine grosse Schlagzeile in der Presse, damit gewissermassen irrationale Panik legitimierend.
Der Journalist Ludolf Herrmann (gest. 1986) charakterisierte damals die jungen Demonstranten, die ein präzises älteres Bild der heutigen ‘Last Generation’ sind, als «rachitische Seelen in pickligen Körpern». Natürlich wurde damals schon prompt die Nazi-Keule dagegen eingesetzt.
Aber ich finde, Herrmanns Wahrnehmung trifft es im Kern. Er meinte damals, dass die jungen Panik-Fetischisten gesunde Überlegung und Nachdenken über Bord geworfen hätten und ihren irrationalen Angst-Trieben freien Lauf liessen. Sich damit gleichzeitig wichtiger und bedeutsamer machten als sie waren. Der Atomkrieg ist jedenfalls durch die Nachrüstung nicht ausgebrochen.
Vom Club of Rome und seinem «peak oil», oder von der modischen «Waldsterbensangst» der 80iger Jahre will erst gar nicht sprechen. Das hatte in seiner vorgespiegelten Wissenschaftlichkeit teilweise kabarettreife Züge. –
Gelernt haben unsere heutigen Angst-Freaks nichts daraus. Die psychologischen Selbsterhöhungsmechanismen, die hinter den Moral-Demos und angsterfüllten Mahnungen stecken, sind eine zu grosse Versuchung.
Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne. Und so ist auch die Grünsekte nur alter Wein in neuen Schläuchen.
Manfred Müller
14. Juni, 2023Also Bitte! Woher kommt denn die Angst der jungen Leute? Sie haben Angst vor einer unbekannten Zukunft. Ältere haben schon mehr erlebt und können mit diesen Ängsten besser umgehen. Aber es ist eben das Vorrecht der Jugend zu protestieren, sich selbst einen Platz in der Gesellschaft zu suchen und eben auch Angst vor der Dunkelheit zu haben. Die Pflicht der Älteren wäre es die Jugend aufzuklären. Heute haben wir die Situation dass viele Ältere schlau und gewissenlos die Ängste ausnutzen, ja sogar erzeugen und zuwenige Ältere sich die Zeit nehmen geduldig aufzuklären. Seit den 80er ist einfach eine Schicht von prekären Akademikern gewachsen die als echte Diskussonswissenschaftler nichts weiter können als Diskussionswisenschaft und eben genau von solchen Debatten wie Klima, Gender, Rassismus leben. Es ist eine neue Schicht von Priestern entstanden mit allen Ansprüchen der alten: sendungsbewusst, selbstgerecht, sich selbst als der tieferen Einsicht mächtig wähnend. Diese Leute sind in den Medien bestens vertreten, leider. Die alten Kirchen biedern sich diesen neuen Pfaffen an und schwimmen mit um selbst etwas für sich abzuzweigen, Menschen und Staatsgelder. Leider biedern sich auch weite Teile der Industrie diesem Zeitgeist an statt diese Debatten auf eine rationale Ebene zu bringen. Und das ist schon neu: diese Anpassung, dieses Kriechertum gegenüber dem neu entsandene Pfaffentum, auf breiter Ebene. Aber das liegt ja auch an den zahlreichen Älteren die sich bequem auf ihrem Wohlstand ausruhen (es sei ihnen ja gegönnt) und die Pfaffen gewähren lassen. mfG M.M
Albert Schultheis
16. Juni, 2023Ja, Herr Müller, es ist unsere Generation, der Ende 60er, Anfang 70er, die das alles verbockt haben. Wir sind es, die sich, mea maxima culpa, an die Brust schlagen müssten. Wir haben doch die damaligen durchgeknallten sog. 68er in den 70er Jahren des alten Jahrtausends noch an den Unis erlebt: diese großkotzigen, von ihrer Selbstlegitimation aufgrund tieferer Erkenntnis beseelten, in Sätzen ohne Punkt und Komma redenden Erleuchteten des Marxismus, Stalinismus und Maoismus bis zu den Roten Khmer. Sie hinterließen auf den Tischen der Mensen jeden Mittag stapelweise kaum lesbare Propaganda-Konvolute zu Revolutionen von Kampuchea bis Nicaragua, sie besuchten selten die Lehrveranstaltungen ihrer klassischen Laber- und Bullschitt-Fächer, höchstens um sie zu stören. Zu den harten naturwissenschaftlichen Fachbereichen hielten sie in der ihnen eigenen überheblichen Herablassung sowieso größtmögliche Distanz. Dennoch hatten diese akademischen Taugenichtse und Tagediebe bereits damals schon den richtigen revolutionären Instinkt, sich unserer Gruppe «Radioaktiv» des Fachbereichs Physik in Mainz anzuschließen, einer AKW-kritischen Aktionsgruppe, um diese zu dominieren und zu instrumentalisieren – obwohl gänzlich fachbereichsfremd. Später gingen viele von diesen Knalltüten in die junge Partei der Grünen, weil sie erkannt hatten, dass sich das AKW-Thema sowie das des Umweltschutzes allgemein idealtypisch als Hebel instrumentalisieren ließ, mit dem man den verhassten Kapitalismus aus den Angeln heben konnte. Wir waren es, die diesen falschen Propheten nicht Paroli geboten, sie in die Schranken verwiesen haben. Sie waren es, die bereits damals innerhalb der Grünen Partei die ersten Versuche der sexuellen Übergriffigkeit gegenüber Kindern und schutzbefohlenen Jugendlichen gestartet hatten. Später entsprangen aus diesen Kreisen Aktionsgruppen wie Wildwasser, die sich anmaßten Tribunale gegen Männer abzuhalten, gegen Väter, Onkel, Freunde der Familie, um nicht nur Männer unter Generalverdacht des Kindesmissbrauchs zu stellen, sonder ganze Familien zu zerstören. Auch sie waren beseelt von der Unfehlbarkeit ihrer Sendung. Wir haben diese Racheengel gezüchtet, genährt und gewähren lassen – aus Feigheit und Opportunismus. Viele von denen traten den Marsch durch die Institutionen an, den sie bereits vor Jahren erfolgreich abgeschlossen haben: im Bundestag, in den Landtagen, in den höchsten Ämtern, bei den NGOs und in den Redaktionsstuben. Damals haben wir sie noch verteidigt gegen das Verdikt des Berufsverbots – heute drehen diese Drecksäche den Spieß um, um uns zu canceln oder uns aus dem politische Diskurs auszuschließen. Wenn wir noch einen Rest Selbstachtung hätten, würden wir diese grün-lackierte rote Brut aus ihren Ämtern verjagen.
Werner Bläser
17. Juni, 2023Sie haben Recht, Herr Schultheis. Unsere Generation hat das verbockt. Persönlich muss ich mir keinen Vorwurf machen, ich hatte meine Kämpfe. Aber ich erinnere mich, damals sagte ein Kollege von mir (sinngemäss): «Gib den Trotteln doch eine gute Note für ihren Schein, dann hast Du Ruhe und die sind zufrieden. Aus denen wird sowieso nichts.» Mit letzterem Punkt hatte er krachend Unrecht.
Kira
15. Juni, 2023Danke für Ihre kurze politische Geschichte der Endzeitphantasien.
Narzissmus als Ideologie – guter Hinweis. Und sehr zutreffend wenn man an die vielen selbstgefälligen Gutmenschen denkt, die überall ihr Unwesen treiben.
Werner Bläser
15. Juni, 2023Ergänzung, aus Anlass der grünen Reaktionen auf Kritik (Özdemir, R. Lang zur Demo in Erding…). Dass die Grünen auf Kritik an ihnen reagieren wie von der Tarantel gestochen, ist ein weiteres Zeichen ihres Narzissmus. Sie halten sich ja nicht für normale Politiker, sondern für eine Art Hohepriesterkaste im Sinne H. Schelskys, die den Alleinvertretungsanspruch auf Humanität und Weltrettung hat. Da ist Kritik kein normaler demokratischer Widerspruch, sondern grenzt an Blasphemie. Kritiker an den Grünen müssen dementsprechend Inkarnationen des Satans sein, zuallermindest aber Nazis und Rassisten.
Es hat irgendwie schon etwas Kindliches.
Wilhelm Lohmar
14. Juni, 2023Ich habe mich einmal in einer Art Gedankenexperiment zurück begeben in das Jahr 1860 nach Essen. Dort traf ich Alfred Krupp und einen Hochofenarbeiter, und es schien mir, daß diese beiden Männer, ohne daß es ihnen bewußt gewesen wäre, eine entscheidende Vorstellung gemeinsam hatten. Beide glaubten, natürlich aus ihrer jeweiligen sozialen Position heraus, felsenfest daran, daß ein zivilisatorischer Fortschritt durch Industriealisierung und technischen Fortschritt erreicht werden kann. Von so einem optimistischen Blick in die Zukunft sind wir heute natürlich sehr weit entfernt. Sie müssen übrigens weiter in die Vergangenheit gehen als nur bis zu William Vogt. Jean-Jacques Rousseau und Thomas Robert Malthus gehören auf jeden Fall auch in die Ahnenreihe der Bußprediger.
Gustav
14. Juni, 2023«Ein blindes Zentrum im Inneren dieses Überzeugungssystems.» Das gilt aber nur für die Jünger dieser Sekte, die als alt bekannter Religionsersatz schon in Sparta ihr Unwesen trieb (siehe Igor R. Schafarewitsch, Der Todestrieb in der Geschichte, Erscheinungsformen des Sozialismus). Die Kaste der Überbringer der Offenbarung, ist auch der Schöpfer der Offenbarung. Wenn jemand aus dem Dornenbusch spricht oder vom Berge Sinai, stecken immer Menschen mit einer Agenda dahinter. Werte fallen nicht vom Himmel, sie haben immer menschliche Schöpfer mit ganz eigenen Absichten. Interessanter Weise findet man die Vorfahren der Kaste der Erfinder von Offenbarungen gleich neben dem Dornenbusch….
Manfred Müller
14. Juni, 2023Vielen Dank für diesen Artikel! Eine sehr anregende Auflistung! Ein Gedanke jedoch dazu: ich denke schon dass es Grenzen des Wachstums gibt und wir nur nicht wissen wo diese liegen weil sie auch vom technischen Fortschritt vorgegeben werden den wir naturgemäß nicht vorhersehen können. Und ich denke auch dass Geburtenkontrolle eine wichtige und sehr nützliche Sache ist. Denn wie Gunnar Heinsohn meiner Meiung nach völlig richtig sagt: wenn es zuviele junge Männer gibt wird geschossen. Das sieht man ja im nahen Osten. Nicht jeder Mann sollte sich verpflichtet fühlen 2 , 3 oder mehr Söhne zu zeugen wie dies in einigen Kulturkreisen ja der Fall zu sein scheint. Die Geburtenkontrolle setzt sexuelle Aufklärung vorraus, wäre also recht einfach zu verbreiten. Ich meine sie wird unterdrückt weil die Pfaffen alter Schule das Elend welches durch rasches Bevölkerungswachstum mit verursacht wird brauchen für ihr Geschäftsmodell der Elendenbetreuung. Genauso wie die heutigen Pfaffen Mirganten ins Land locken damit sie jemanden haben den sie betreuen können. Der Artikel bringt es auf den Punkt: die wesentlichen Akteure der Debatten verhindern eine rationale Debatte – schließlich leben die vom diffusen Geschwätz der verschiedenen Unterganszenarien.
Pauline G.
14. Juni, 2023Sehr guter Artikel von A. Wendt, informativ, ein Augenöffner. Und sehr gute Leserbeiträge dazu ( bezogen auf die beiden bisher veröffentlichten Posts).
Albert Schultheis
15. Juni, 2023Herzlichen Dank für diesen hoch interessanten geschichtlichen Überblick zum Thema Apokalyptizismus, der mir als ausgebildeter (aber nicht mehr «praktizierender» Amerikanist) nicht in diesem Ausmaß bekannt war.
Natürlich spielten die Prediger von der Endzeit immer eine große Rolle in der amerikanischen. Literatur und Kultur – als Beispiel seien genannt der Schelmenroman «Huckleberry Finn», die moderneren Stories von Coraghessan Boyle und der großartige Film «There will be blood!» In diesem Zusammenhang ist der sozialpolitische Hintergrund der Jahre seit ’45 hochinteressant und absolut plausibel. Genauso plausibel ist, dass gerade religionsaverse deutsche LinksGrüne der Jeunesse d’oree diesen sektenartigen Unheilsversprechungen nacheifern.
Roy
15. Juni, 2023Während meiner Schulzeit in den 70ern war das Motto:»No Future».
Die größten Pessimisten sind dann aber doch noch Lehrer(in) geworden oder anderswo beim Staat unterkommen.
Heute stehen sebstverständlich San Pellegrino und Perrier auf dem Tisch, wenn über die schlimmen Spießer geklagt wird. Gut, dass Herr Wendt auf die Bigotterie dieser Leute mit hohem Cash Flow bis zum Lebensende und darüber hinaus hinweist.
Sine
15. Juni, 2023Ich hätte diesen Artikel gerne in einer einfacheren, kürzeren Fassung. Damit auch breitere Teile der Bevölkerung verstehen können (und wollen), was hier eigentlich läuft. Die geschichtlichen Hintergründe sind dabei nicht so wichtig, wichtig ist es herauszuarbeiten wo die Reise hingehen soll und wer die Akteure sind, die diese vorantreiben. Der Artikel sollte fundiert und sachlich sein, aber trotzdem so eindeutig geschrieben, dass ganz klar wird, dass es keine Demokratie mit diesen Einschränkungen geben kann. Die Menschen haben noch nicht verstanden, was hier los ist. Die meisten denken immer noch, dass da lediglich ein paar übermotiviert und durchgeknallt sind in Berlin. Und die Zeit läuft. Ich habe Angst, dass der Sack bald zugemacht wird.
Als Anmerkung insgesamt möchte ich noch sagen, dass der kritische Widerstand meiner Ansicht nach viel zu intellektuell unterwegs ist. Das ist zwar toll, dass so intelligente Menschen, mit so viel Hintergrundwissen, so lehrreiche Artikel schreiben, aber die Wahlen und generell der Kampf um die Mehrheitsmeinung werden so nicht entschieden.
Jens Richter
18. Juni, 2023@Sine. Da möchte ich Ihnen widersprechen. Alexander Wendt lesen heißt Literatur lesen, heißt «die Arbeit des Begriffs» leisten. Billige Schlagworte und Häppchenjournalismus haben wir wahrlich genug. Gerade das Herausschälen des Alles-schon-mal-Dagewesenen, das Aufzeigen der immergleichen, degoutanten Bigotterie ist erhellend. «Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenne auch die Herren Verfasser! Ich weiß, sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.» (Heine).
Michael Pollan
20. Juni, 2023Da widerspreche ich auch. Die Aufgabe für Menschen, die in der Lage sind, diesen komplexen Text zu verstehen, besteht darin, den Inhalt zu behalten, und ihn bei der einen oder anderen Gelegenheit anderen Leuten mitzuteilen unter Berücksichtigung des Niveaus des Gegenübers. Man könnte z.B. Goethe (würde er noch leben) doch nicht vorwerfen, dass er etwa den «Faust» zu komplex geschrieben hätte und ihm vorschlagen, eine vereinfachte Version zu präsentieren. Der vorliegende Text bildet und bietet in künftigen Auseinandersetzungen ein gutes Fundament für durchdachte Argumentation.
Rainer Möller
17. Juni, 2023Ganz herzlichen Dank für die gute Zusammenfassung. Bezüge zur religiösen Apokalyptik scheinen mir eher unwichtig – eine Deutung im Sinne Schelskys liegt aber wirklich nahe: Die «Intelligentsia» ist eine neue Klasse mit eigenem Machtanspruch, die das ältee Priestertum (soweit es sich nicht anhängt wie Bedford-Strohm) verdrängt. Dabei bleibt ganz natürlich das eigentliche Wissenschaftliche auf der Strecke, Schelsky ist mit seinem Versuch einer «Selbstaufklärung der Soziologie» ja auch gescheitert.
Herrmanns Überlegung, die Einsparung von Energie in einer kapitalistischen liberalen Demokratie würde ungerecht verlaufen und daher an Widerständen in der Bevölkerung scheitern, ist aber eigentlich zu idealistisch gedacht. Schließlich kann eine Regierung Opposition, «Widerstände» und Abwahlversuche auch einfach unterdrücken. Insofern braucht sich die kommende Diktatur – über ein paar Propagandafloskeln hinaus – gar nicht um eine im Sinne Herrmanns «gerechte» Verteilung der Energie zu bemühen.