Das große Umschreiben: Wie der Holocaust aus der Geschichte verschwinden soll
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Das Gedenken an den europäischen Judenmord, fordern akademische Stichwortgeber und Aktivisten, dürfe nicht mehr so wichtig genommen werden. Denn es behindere die Erinnerung an Kolonialverbrechen. Diese Gewichtsverschiebung ist nur ein Teil eines globalen Unternehmens, um den Westen zu delegitimieren
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 34 min Lesezeit
Die Begehung des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar 2023 unterschied sich von jener der Vorjahre. Auf den ersten Blick nur im Detail. Auf den zweiten fügt sich die Art und Weise, wie Regierungsvertreter und Journalisten den Akzent setzten, in ein sehr viel größeres Bild ein. Und das wiederum betrifft nicht nur die deutsche Gedenk- und Geschichtspolitik.
Den Holocaust-Gedenktag gibt es in Deutschland seit 1996, sein Datum leitet sich von dem Tag ab, an dem sowjetische Truppen 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Im Jahr 2005 erklärte die UN den Tag zum International Holocaust Remembrance Day. In Berlin gehört eine feierliche Parlamentssitzung zu dem Zeremoniell; seit einigen Jahren gedenken die Parlamentarier und ihre Gäste auch nichtjüdischer Opfergruppen, etwa der Sinti und Roma. Denn die Gedenkveranstaltung soll zwar in erster Linie an den Holocaust erinnern, in zweiter Linie gilt sie aber allen NS-Opfern. Am 27. Januar 2023 stellten Bundestag und -Regierung, wie der parlamentarische Staatssekretär und Queer-Beauftragte Sven Lehmann schrieb, „die queeren Opfer in den Mittelpunkt“.
Gegen eine spezielle Erinnerung an schwule NS-Opfer an diesem Tag wäre nichts einzuwenden. Allerdings stehen sie in dem Tweet des Staatssekretärs und auch in seiner längeren Erklärung auf der Webseite des Bundesfamilienministeriums eben nicht im Zentrum, was ja voraussetzen würde, dass noch etwas anderes vorkommt. Es handelt sich aber um die einzige Opfergruppe, die er überhaupt nennt. Auch in der offiziellen Verlautbarung von Familienministerin Lisa Paus, der Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman, einem Tweet der grünen Bundestagsabgeordneten Marlene Schönberger und in einem Kommentar der Tagesthemen finden die Juden und Auschwitz überhaupt keine Erwähnung. Nicht einmal der Form halber und auch nicht ganz am Rand.
Auch Paus nennt „die Opfer des Nationalsozialismus“ nur allgemein, um dann festzustellen: „Das Leiden der Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität verfolgt und ermordet wurden, blieb viel zu lange ungesehen“, wobei sie die homosexuellen Opfer mit der Formel „geschlechtliche Identität“ verbindet, die zwar in das moderne Begriffsraster passt, aber nicht zur NS-Geschichte. In Lehmanns Erklärung heißt es: „Die Verfolgung homo- und bisexueller Männer und Frauen, insbesondere in der NS-Zeit, aber auch ihre Kontinuität in der Bundesrepublik und der DDR, sind nicht ausreichend erforscht. Zur Geschichte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen gibt es kaum Forschung. […] Mit Beschluss des Aktionsplans ‘Queer leben’ hat die Bundesregierung Vorhaben vereinbart, um die Erinnerungskultur in diesem Bereich zu stärken.“
Seine Formulierung stammt aus dem genannten Aktionsplan von 2022. Und für die Feststellung, etwas sei nicht ausreichend erforscht, finden sich eigentlich immer Gründe. Andererseits gibt es schon sehr gründliche Forschungen zur Verfolgung schwuler Männer im Dritten Reich. Aus dieser Forschung ergibt sich aber auch, dass sich keine vergleichbare Verfolgung lesbischer Frauen nachweisen lässt. Für eine systematische Verfolgung von trans- und intergeschlechtlichen Menschen durch die Nationalsozialisten gibt es keine Belege. (Transgeschlechtlichkeit in dem Sinn, dass jemand sein biologisches Geschlecht an das andere angleichen lässt, existiert übrigens erst seit 1952: In dem Jahr ließ sich der Amerikaner George William Jorgensen in Dänemark operieren und begann anschließend eine erfolgreiche Schauspiel- und Gesangskarriere unter dem Namen Christine Jorgensen).
Lehmann lässt also nicht nur wie die anderen Aufgeführten das zentrale historische Ereignis der Shoa, an das dieser Tag erinnern soll, einfach aus. Er transponiert auch Gegenwartskategorien in die NS-Vergangenheit, in der sie entweder keine Rolle spielen, oder jedenfalls nichts zum Verständnis der nationalsozialistischen Diktatur beitragen. Die ARD-Journalistin Sarah Frühauf beklagt zwar in ihrem Tagesthemen-Kommentar, das Wissen vor allem Jüngerer um den Holocaust sei „bedrückend gering“. Einen Grund, die Shoa, Juden und Auschwitz wenigstens kurz zu streifen, sieht sie darin nicht. Frühauf spricht einmal von homosexuellen, einmal von „queeren Opfern“ – der einzigen bei ihr explizit genannten Opfergruppe. Bei ihr fällt auch der bemerkenswerte Satz: „Die Art des Erinnerns verändert sich.“ Das allerdings zeigte der Gedenktag 2023 sehr deutlich.
Und diese Veränderung fügt sich in ein wesentlich größeres Panorama. Zu ihrer Verteidigung wenden Paus, Lehmann und Ataman wahrscheinlich ein, die Geschichte des europäischen Judenmordes sei ja allgemein bekannt – was allerdings nichts zu Frühaufs durchaus zutreffendem Befund passt. Andere warnen womöglich vor einer Opferkonkurrenz.
Aber um diesen Begriff geht es hier nicht. Sondern zunächst einmal um die historischen Proportionen. Sie sollen noch einmal kurz umrissen werden, bevor sich dieser Text damit befasst, wer eigentlich das Erinnern aus welchen Gründen verändern möchte.
Homosexuelle zählten ohne Zweifel zu den Feindbildern der Nationalsozialisten. Im Jahr 1935 verschärften sie den schon bestehenden Strafparagraphen 175. Insgesamt kamen zwischen 1933 und 1945 etwa 50 000 Männer wegen Homosexualität ins Gefängnis, etwa zehn- bis fünfzehntausend in Lager, wovon wiederum etwas mehr als jeder Zweite ermordet wurde oder an den Haftbedingungen starb. Aber ganz abgesehen von den Opferzahlen fand ihre Verfolgung nie mit der Systematik und Totalität statt wie die Ermordung der europäischen Juden. Es lässt sich kaum rekonstruieren, aus welchen Gründen manche, die wegen des Paragraphen 175 im Gefängnis saßen, nach der Haft entlassen und andere anschließend in Konzentrationslager verschleppt wurden; wahrscheinlich deshalb, weil dafür keine einheitlichen Gründe existierten.
Für Prominente des Dritten Reichs existierten erstaunliche Ausnahmen. Ernst Röhm konnte bis zum 30. Juni 1934 die SA führen, obwohl seine Homosexualität vor 1933 Stoff für etliche Zeitungsartikel und Karikaturen hergab. Hitler ließ Röhm auch nicht wegen dessen Sexualität ermorden, sondern, weil der SA-Führer mit seiner Idee, die SA zu einer Armee umzuwandeln, den Plänen des Diktators im Weg stand. Ein anderer SA-Führer, dessen Vorliebe für Männer als nicht sonderlich geheim galt, der Kaisersohn August Wilhelm von Preußen, genannt Auwi, blieb nicht nur von dem Massaker von 1934 verschont. Er stieg 1938 sogar zum Obergruppenführer auf, dem zweithöchsten SA-Rang. Nach der Ermordung Röhms und anderer SA-Oberer in Bad Wiessee 1934 schrieb der Intendant des Berliner Schauspielhauses Gustaf Gründgens einen Brief an seinen Gönner Hermann Göring; Gründgens bat darin mit einem nur leicht verklausulierten Hinweis auf seine allgemein bekannte Homosexualität, ihn von seinem Posten abzuberufen. Göring wies das zurück, im Jahr 1937 machte er den Schauspieler sogar zum Generalintendanten der preußischen Staatstheater.
Auf ihren so genannten „Rosa Listen“ erfasste die Polizei im Dritten Reich etwa 100 000 Männer. Eine gelegentliche strafrechtliche Verfolgung lesbischer Frauen fand wegen der unterschiedlichen Gesetzeslage zwar im angeschlossenen Österreich und im so genannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren statt – aber nicht im Altreich. Diese Unsystematik, die von-Fall-zu-Fall-Entscheidungen, die Ausnahmen sprechen selbstverständlich nicht für die Milde der Nationalsozialisten gegenüber dieser Opfergruppe. Sondern dafür, dass die Verfolgung Homosexueller in der NS-Ideologie und besonders im Denken Hitlers keinen besonders wichtigen Platz einnahm. Genau dadurch unterschied sie sich grundlegend von der Ausrottungspolitik gegen die europäischen Juden. Um diese zu verwirklichen, setzte Hitler einen riesigen Apparat in Gang, der dafür sorgte, dass Juden auch auf Kreta und in Amsterdam aus ihren Verstecken geholt wurden. Hier gab es weder Unsystematik noch Ausnahmen, sondern einen totalen Vernichtungswillen. Es relativiert das Leiden keines einzigen schwulen NS-Opfers, wenn man feststellt: Die Verfolgung Homosexueller gehört zu den Fußnoten des Nationalsozialismus. Der mörderische Antisemitismus bildet dagegen den Haupttext. In Hitlers Denken nahm er den zentralen Platz ein.
Albert Speer notierte in seinem „Spandauer Tagebuch“ am 20. November 1952 seine Erinnerungen an eine Schlüsselszene, einen Spaziergang, den Hitler mit ihm im November 1942 auf dem verschneiten Obersalzberg unternimmt. Er habe Hitler in vielen Situationen erlebt, schreibt Speer: „Aber wenn ich eine einzige Szene schildern soll, wo […] seine vielen Gesichter zu wirklich einem wurden, denke ich an […] nichts anderes als einen Spaziergang im Schnee.“ Von der Front kamen enttäuschende Nachrichten, die Lage der 6. Armee in Stalingrad verschlechterte sich fast täglich. Hitler eröffnete das Gespräch – oder vielmehr seinen Monolog – mit den Sätzen: „Wie ich den Osten hasse. Schon der Schnee macht mich deprimiert“, um sich dann in eine lange Erregung über die Juden hineinzureden. Die Juden seien schuld an Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg, sie hätten ihm auch diesen Krieg aufgezwungen, den er nicht gewollt habe, sie hätten ihm seine besten Jahre geraubt. In dieser Suada stieß er auch den Satz heraus: „Die Juden haben mich in die Politik gebracht.“ Ein paar Absätze weiter notiert Speer: „Nie habe ich so deutlich wie in diesem Augenblick empfunden, wie unbedingt notwendig die Figur des Juden für Hitler war – Haßobjekt und Fluchtpunkt zugleich.“
Zu dieser Zeit, da selbst er einen Sieg für zunehmend unwahrscheinlich hielt, rückte für ihn der Gedanke offenbar ganz in den Mittelpunkt, wenigstens noch sein Ausrottungsprojekt zu Ende zu bringen. Seinen erregten Vortrag beendet er mit dem Stakkato: „Wir werden ihrer habhaft werden! Jetzt wird abgerechnet! Sie sollen mich kennenlernen!“
Ohne eine Wahrnehmung der Shoa in ihren Proportionen gibt es keine sinnvolle Deutung Hitlers und seiner Ideologie.
Aber was, wenn diese Wahrnehmung einer ganz anderen Geschichtsdeutung im Weg steht?
Im Februar 2022 verkündete die Schauspielerin Whoopi Goldberg im ABC Talk eine Deutung des Holocaust, mit der sie nicht allein steht. „Wenn ihr das machen wollt, dann lasst uns wahrhaftig sein”, so Goldberg, „weil es in dem Holocaust nicht um Rasse ging“. (“If you’re going to do this, then let’s be truthful about it because the Holocaust isn’t about race.”) Sondern „um zwei weiße Gruppen von Leuten“ („two White groups of people”). Wie gesagt, bei der Beschreibung des Holocaust als „white on white crime“ – und deshalb nicht rassistisch – handelt es sich nicht um eine Spezialität Goldbergs, die sich übrigens den jüdisch klingenden Namen irgendwann zugelegt hatte (ihr tatsächlicher Name lautet Caryn Johnson). Schon 2016 berichtete die New York Times von der Ausbreitung der „mere white on white crime“-Formel im akademischen Betrieb am Beispiel des Oberlin College.
Warum ist einer einflussreichen Strömung diese Feststellung so wichtig? Nach der radikalen Lehre von Ibram X. Kendi, Robin DiAngelo („White Fragility“) und anderen kann es ontologisch keinen Rassismus gegen Weiße geben. Weiße bilden global das Täter-, Nichtweiße das Opferkollektiv. So, wie Nichtweiße nie Rassisten sind, können Weiße sich nie wirklich zu Nichtrassisten läutern. Für Kendi und andere beginnt der Rassismus folgerichtig schon dann, wenn ein Weißer – völlig unabhängig von dem, was er sonst denkt und tut – behauptet, er sei kein Rassist. Denn so verdränge er seinen Rassismus nur. Damit erweitern die identitäts- und rassenpolitischen Denker dieser Ausrichtung das Gedankengebäude von Frantz Fanon, der schon 1961 in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ den gesamten Westen für genuin rassistisch erklärte.
Die Shoa passt gleich aus zwei Gründen nicht in diese neugeschriebene oder vielmehr erfundene Globalgeschichte. Die Tatsache, dass die europäischen Juden zu den Weißen zählten und zählen, widerspricht dem Dogma, Weiße könnten nie Opfer von Rassismus, sondern nur Täter sein. Außerdem gehören die Juden zum Westen, also zu der Entität, die Fanon für so rassistisch durchtränkt hält, dass sie am besten verschwinden sollt. Nach der „Critical Race Theory“ (zu deutsch: Kritische Rassentheorie) bilden Weiße nicht nur schlechthin das Kollektiv der Schuldigen. Der Begriff des Rassismus erfasst auch mehr oder weniger jeden Umgang von Weißen mit Nichtweißen, jede Benennung von Unterschieden, sogar die Unterschiede selbst, während er gleichzeitig Rassismus als exklusiv westlich-weißes Phänomen definiert. Die Weltbeschreibung, die dieser Lehre entspringt, erzählt die Entwicklung des Westens folglich als Kriminalgeschichte. Ihre zentralen Begriffe lauten Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus. Dieser neu geschaffenen Erzählung steht die Shoa gleich aus einem doppelten Grund im Weg, denn die europäischen Juden lassen sich nun einmal weder entweißen noch entwestlichen. Wer die Identitätspolitik mit ihrem parareligiösen Gut-Böse-Schema durchsetzen will, muss zwangsläufig die Erinnerung an die Shoa beiseiteräumen. Oder sie zumindest – der Monstrosität ihres Gegenstandes wegen – zerkleinern und verformen.
An diesem Großprojekt arbeiten viele, und das durchaus mit Erfolg. Im Fernsehgeschäft gibt es die Praxis, eine Serienfigur, die nicht mehr gebraucht wird oder aus anderen Gründen ausscheiden soll, aus der Staffel herauszuschreiben, ihren Abgang also dramaturgisch plausibel zu machen. Genau das geschieht gerade mit der Shoa und mehr oder weniger mit den Juden: Akademische Stichwortgeber und politische Unterstützer schreiben sie Schritt für Schritt aus der Geschichte.
Den Anfang machte der australische Historiker Anthony Dirk Moses 2021 mit einem Aufsatz, in dem er das bisherige Holocaust-Gedenken in Deutschland als „deutschen Katechismus“ bezeichnete, was bei ihm zu der Schlussfolgerung führt: „Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.“ Diese Forderung erhebt er ausdrücklich zu einem bestimmten Zweck: Das Holocaust-Gedenken stünde der Erinnerung an die (deutschen und überhaupt westlichen) Kolonialverbrechen im Weg. Deshalb müsse es nicht ganz verschwinden, aber unbedingt eine andere Form annehmen. In Deutschland fanden Moses‘ Thesen ein großes und teils begeistertes Echo. „Während sich das Holocaustgedenken fest etabliert hat“, schrieb Christian Staas in der Zeit, „ist das kolonialhistorische Gedächtnis voll weißer Flecke geblieben. Da wundert es kaum, dass die Rede von der Singularität und die Metapher vom Zivilisationsbruch den Unmut jener auf sich ziehen, die aus der Perspektive des globalen Südens auf die Weltgeschichte blicken.“ Mit der Formel, das sei eben die Perspektive des „globalen Südens“, versuchten die documenta-Verantwortlichen bekanntlich auch, das antisemitische Propagandabild eines indonesischen Künstlerkollektivs zu verteidigen.
Zu den wichtigsten deutschen Unterstützern des Um- und Herausschreibens zählt der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer, der auch die „Forschungsstelle Hamburgs (post)koloniales Erbe“ leitet. Zusammen mit dem in Los Angeles lehrenden Anglisten Michael Rothberg verfasste er für die Zeit einen Aufsatz, in dem beide noch deutlicher als Moses aussprechen, was sie am Holocaust-Gedenken stört:
„Es geht um nicht weniger als um die Abwehr einer Debatte über koloniale Verbrechen, und damit verbunden um die unkritische Rettung einer europäischen Moderne, die Sicherung einer weißen hegemonialen Position im Inneren und die dominierende Stellung des ‚Westens‘ nach außen.“ Hier befinden sich beide ganz in der Spur Frantz Fanons. Und es geht eben nicht nur um Theorie.
Während das Gewicht der Shoa tatsächlich schon schrumpft, kann die staunende Öffentlichkeit neuerdings auch verfolgen, wie die Kolonialschuld ständig anwächst, zuletzt durch den Versuch von Außenministerin Annalena Baerbock, mit der Rückgabe der Benin-Bronzen mehr oder weniger auch Nigeria nachträglich zum deutschen Kolonialreich zu addieren.
Zum systematischen Herausschreiben der Shoa aus der Erinnerungspolitik kommt übrigens noch eine zweite Umformung der Geschichte: Für das Dogma des ausschließlich weiß-europäischen Täterkollektivs als Träger alles Bösen muss selbstverständlich auch die Geschichte der muslimischen Sklavenhändler und -halter verschwinden, genauso wie die der innerafrikanischen Sklaverei.
Im vergangenen Jahr radikalisierte sich die Holocaust-Umdeutung noch einmal deutlich mit der Konferenz „Hijacking Memory“ im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“, finanziert aus dem Etat der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Ihre Organisatoren versuchten nichts weniger, als das Holocaust-Gedenken als „rechts“ einzufärben, in Deutschland das Verdammungswort schlechthin.
„Wir haben beobachtet, dass rechte Akteure international, aber auch in Deutschland das Gedenken an den Holocaust vereinnahmen oder kapern, um nationalistische, xenophobe, rechtspopulistische Politik zu machen“, erklärte die Tagungsorganisatorin und Publizistin Emily Dische-Becker. Auf der Tagung konnte Tareq Baconi, Funktionär des „Palestinian Policy Network“ in seinem Vortrag Israel als „Kindermörder“ beschimpfen. Die Holocaust-Erinnerung verspottete er als „jüdisches Psychodrama“. Damit stieß er in der deutschen Hauptstadt nicht etwa auf Widerspruch, sondern, wie der polnische Historiker Jan Grabowski, der an der Tagung teilnahm, in einem Welt-Interview berichtete, auf einhellige Zustimmung. „Im Zentrum Berlins“, so Grabowski, „saßen 200 Vertreter der deutschen Intelligenzija – Intellektuelle, Studenten, Professoren, Journalisten – und applaudierten enthusiastisch, als […] die Holocaust-Debatte als ‘jüdisches Psychodrama‘ bezeichnet wurde.“
Als weiterer kleiner Baustein fügt sich eine Entscheidung aus dem Hause Claudia Roths ins große Bild ein: In dieser Woche löste sie innerhalb der Abteilung K 52 das Referat „Antisemitismus- und Extremismusbekämpfung“ auf. Stattdessen entsteht ein neues Referat mit dem Titel „Kultur und Erinnerung in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft.“
Diese Einwanderungsgesellschaft bringt es auch mit sich, dass Lehrer, wie sie meist anonym berichten, in Klassen mit vielen muslimischen Schülern das Thema Holocaust oft gar nicht mehr behandeln – weil sie im Klassenzimmer sofort wütenden Widerspruch ernten. Entweder halten ihnen Schüler vor, es handle sich um eine Erfindung. Oder sie verlangen, dem Holocaust-Gedenken müsste dann aber die Nakba, die Vertreibung von Palästinensern nach dem gescheiterten Vernichtungskrieg gegen Israel von 1948 als mindestens gleichwertig gegenübergestellt werden. Die meisten Jugendlichen dürften von Moses und Zimmerer noch nie gehört haben. Aber sie exekutieren in den Schulen exakt das, was die akademischen Stichwortgeber umfangreich begründen.
In dieses Bild fügt sich auch ein, dass identitätspolitsche Linke Israel neuerdings als „kolonialrassistisches Projekt“ einordnen und es damit kurzerhand dem weiß-europäischen Schuldzusammenhang zuschlagen. Nach dieser Logik handelt es sich bei Demonstranten, die in Deutschland uns anderswo mit der Parole „From the River to the sea, Palestine will be free“ die Beseitigung Israels fordern, nicht mehr um Antisemiten, sondern um Vorkämpfer des Antikolonialismus, um die authentische Stimme des „globalen Südens“. Die Vernichtung des einzigen jüdischen Staates wäre dann nicht mehr die Vollendung des Holocaust, sondern ein Höhepunkt des antikolonialen Kampfes.
Schwule Opfer des Nationalsozialismus gehören zwar auch zum weißen Westen. Aber ihre Verfolgung geschah nicht aus rassischen Gründen. Wenn Sven Lehmann und andere dann auch noch von „queeren Opfern“ sprechen, außerdem von einer systematischen NS-Verfolgung von Intersexuellen und Transgender, die bisher kein Historiker entdecken konnte, ergibt sich noch ein erheblicher Bedeutungsgewinn für ihre politische Agenda. Vor allem formt aber schon eine Nicht- oder randständige Erwähnung des nationalsozialistischen Judenmordes die Geschichtsschreibung Stück für Stück um. Aus Fußnoten ergibt sich ein neuer Haupttext. Der Haupttext soll zur Fußnote herabsinken.
Natürlich handelt es sich bei dem neuen Text nicht um Geschichtsschreibung, sondern um eine Politik mit dem Ziel, dem Westen gewissermaßen den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Diese Ideologie entsteht im Westen – wie bisher alle antiwestlichen Bewegungen. Diejenigen, die sich zu ihr bekennen, beweisen ihre Anschlussfähigkeit an ein riesiges Feld, das von antiwestlichen Akademikern an amerikanischen und europäischen Hochschulen bis zur Hamas und anderen islamischen Bewegungen reicht.
Ihr unausgesprochenes gemeinsames Motto findet sich schon bei George Orwell: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
18 Kommentare
Original: Das große Umschreiben: Wie der Holocaust aus der Geschichte verschwinden soll
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Oskar Krempl
2. Februar, 2023Sehr geehrter Herr Wendt,
wiederum ein ausgezeichneter Artikel aus Ihrer Feder, dem ich in jedem angeführten Punkt zustimme. Aber und das ist ein großes ABER, was erwarten Sie von ideologisierten Volltrotteln, die sich nicht nur auf die untergehende Bundesrepublik beschränken?
Einsicht, etwaig Verstehen? Damit wären die selbstgerechten «Gesalbten» (um Thomas Sowell zu zitieren) eindeutig überfordert. Die denken nicht einmal im Traum über Selbstreflektion nach.
Das trauige Fazit ist, daß Menschen seit Beginn der Menschheit ihresgleichen aus den verschiedensten Gründen umbrachten, umbringen und umbringen werden. Singulär wie kollektiv, sowohl auf Opfer- als auch Täterseite.
Daran wird weder irgend ein Gedenktag (die sowieso nur als Bühne für politische Inszenierungen dienen, um letztendlich genauso weiter fuhrwerken zu können, halt nur anders ettiketiert), noch irgendwelche bombastische, aber letztlich rein pathetische Reden, die primär der verbalen Selbstbefriedigung dienen, jemals etwas ändern.
Denn es sind rein die Taten, die zählen, die etwas ändern. Und an diesen Taten erkennt man die Menschen und ihre Gesinnung unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Kultur, Sprache bzw. Ethnie.
Sebastian Wulf
2. Februar, 2023Exzellenter Text und wie immer anregende Lektüre. – Eine Anmerkung hätte ich noch zur Dimension des Kolonialismus im Deutschen Reich. Das Reich kam ja viel zu spät, um noch bei der Verteilung der Welt entscheidend mitzuspielen, Portugiesen, Spanier, Engländer, Franzosen hatten das meiste schon unter sich ausgemacht. Mit der Lebensraumpolitik jedoch wurde versucht eine Idee umzusetzen, die bereits im Kaiserreich bestanden hatte, nämlich sich doch noch einen Teil des Kuchens zu sichern, und zwar die «Kornkammer», also die fruchtbaren Böden nördlich des schwarzen Meeres. Hier, in der Ukraine, gab es auch die höchste Zahl an Kriegsopfern aller von Hitlers Wehrmacht überfallenen Gebiete bezogen auf die Einwohnerzahl. Das erscheint möglicherweise auch nur als Fußnote der Geschichte der NS-Verbrechen, ist aber historisch betrachtet sehr wohl beachtlich auch im Vergleich zum Mord an den Herero/Nama oder der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes. – Und auch hier: Kein Rassismus nach linker Lesart. Dass andererseits indigene Afrikaner an der Sklaverei als Zwischenhändler verdient haben, afrikanische Stämme von anderen «kolonisiert» wurden, alles das bleibt im nicht rechten Diskurs Nebenwiderspruch. Daher frage ich mich, was eine Minderheit «westlicher Intellektueller» dazu treibt, offensichtlich Unzutreffendes wie eine Monstranz vor sich her zu tragen. Ich habe den Eindruck, es handele sich um Abwehr diffuser Ängste, die aus dem Mismatch der Betrachtung der eigenen intakten Lebenswirklichkeit an der Uni mit der medial vermittelten, nicht unmittelbar erlebten «Welt draußen» entsteht, einer Abwehr durch Intellektualisierung, also Aufbau eines Gedankengerüstes, das die dystone Gefühlslage einzugrenzen in der Lage ist. Da dies jedoch ein intrapsychischer Prozess ist, ändert sich dadurch an den Tatsachen nichts, auch nicht, wenn man sich bei Gleichgesinnten dieser «Wahrheit» vergewissert. Um das «Schutzniveau» vor der Angst aufrecht zu erhalten, der Bewältigung des andauernden Schuldgefühles Herr zu werden, muss dieser Mechanismus ständig und ständig wiederholt werden. Es entsteht so eine (ersatz-)religiöse Haltung, in der die Betroffenen Getriebene eines Versündigungsmotivs sind, das wiederum tief in der christlichen Kultur des Westens verankert, also auch in weniger intellektuellen Milieus anschlussfähig ist. – Aufklärung tut not, sonst sehe ich schwarz!
Werner Bläser
2. Februar, 2023Einige Aufsätze früher – ich schaue jetzt nicht nach, bei welchem – stand der Satz von Herrn Wendt als Antwort auf einen Kommentar, dass man in die politische Analyse nicht Kategorien von psychischen Krankheiten einführen sollte – dies führe zu nichts. Ich habe dem damals schon widersprochen.
Bei diesem neuen Artikel heute frage ich mich, wie soll man denn solche hier beschriebenen Geisteshaltungen irgendwie mit geistiger Normalität vereinbaren? Mir fehlt einfach die Phantasie dafür.
Das, was hier von extrem linker Seite zusammengebastelt wird, hat doch mit Vernunft, Rationalität, Faktentreue aber auch nicht mehr das Allergeringste zu tun. Das ist – für mein Empfinden – nur noch krank.
Selbst eine recht oberflächliche Beschäftigung mit der Geschichte von Regionen der Dritten Welt (des «Südens») würde offenbaren, dass Kolonialismus keineswegs ein Monopol Europas war. Alle möglichen machtvollen politischen Gebilde der Geschichte, auch im «Süden», haben Kolonien gebildet. Sie heissen in unserem Sprachgebrauch meist nur nicht so.
Jeder Pennäler müsste doch wissen, dass zum Beispiel das Inka-Reich Kolonien eroberte. VOR dem Erstkontakt mit den Spaniern. Nicht anders die Azteken. Ohne die aufbegehrenden «Kolonien» der Azteken hätte es Cortez niemals geschafft, Mexico zu erobern.
Die Geschichte Afrikas ist etwas weniger bekannt – nicht, weil es da nichts zu untersuchen gäbe, sondern weil man nicht so genau hinschaut. Aber auch da finden sich haufenweise Beispiele, in denen stärkere Reiche Kolonien unter den Nachbarn bildeten (wer sich informieren will, kann mit der Geschichte Äthiopiens beginnen).
Aber es scheint hier so ähnlich zu sein wie beim Rassismus: So, wie angeblich nur Weisse Rassisten sein können, kann es wohl auch nur weissen Kolonialismus geben.
Es lebe die Definition, nieder mit den Fakten!
Wenn das noch irgendwie geistig normal ist, was soll man dann noch für krank halten? Für mich sind das Spinner – wenn auch keine harmlosen.
A. Iehsenhain
2. Februar, 2023„Dieser neu geschaffenen Erzählung steht die Shoa gleich aus einem doppelten Grund im Weg, denn die europäischen Juden lassen sich nun einmal weder entweißen noch entwestlichen. Wer die Identitätspolitik mit ihrem parareligiösen Gut-Böse-Schema durchsetzen will, muss zwangsläufig die Erinnerung an die Shoa beiseite räumen. Oder sie zumindest – wegen der Monstrosität ihres Gegenstandes – zerkleinern und verformen.“ – Die historische Pervertierung und Gedenk-‘Kultur’ in einem kurzen Absatz beschrieben, dass man es eigentlich in Stein meißeln sollte. Da dieser Abbauprozess des hässlichen Gewichts des Holocaust und dem damit einhergehenden okkulten Antisemitismus echten Neo-Nazis in die Hände spielen würde, werden dem Neonazismus («Rechts») einfach neue ‘Attribute’ in den Schlagwort-Larynx gelegt, die sich mit den Schlagworten des Widerstands einer (berechtigt) kritischen Contra-Öffentlichkeit decken. Damit schlagen die ‘Architekten der Angst und der Zwietracht’ zwei lästige Fliegen mit einer Klappe.
Skepticus
2. Februar, 2023Ihr akribischer Bericht über die Umschreibung der «Deutschen Geschichte» ist voll potentiellem Sprengstoff. Die Deutschen einfach so als Tätervolk und (angebliche) Rassisten zu bezeichnen ist schlicht ein Skandal. Ewig diese politischen Indoktrinationen, Ideologie soweit das Auge reicht. Es scheint sinnlos zu sein, sich dagegen erfolgreich zu wehren, weil fast alle Parteien linkslastig sind und damit als Korrektur ausfallen. Wenn man aber den gefährlichen Gedankengang der «Wissenschaftler» und Politiker bis zum Ende denkt, dann steht zu befürchten, dass möglicherweise alle Deutschen als «Täter/Rassisten» verdächtigt werden können und ihnen somit der «Prozeß» gemacht werden kann. Hoffentlich mündet das Ganze nicht in einen Holocaust, denen dann alle Deutschen zum Opfer fallen könnten. Oder sehe ich da was falsch? Man kann sich angesichts solcher schrägen bis bösartigen Ideologien voller Verachtung von der Politik abwenden, wenn man seine Seele schützen will/muss.
Rudi
3. Februar, 2023Es ist ja nicht nur die «Deutsche Geschichte». Es ist die Geschichte von Europa und den USA, die man als «Kriminalgeschichte» darstellt. Das Feindbild des «alten weißen Mannes», der an allem Übel dieser Welt schuld sein soll, ist sogar in akademischen Kreisen verbreitet.
pantau
2. Februar, 2023Lieber, geehrter Herr Wendt,
um die an Ihnen wahrgenommene Technik auf Sie selbst anzuwenden: durch Ihre Publizistik zieht sich die Tendenz, das Niederschwellige zu erfassen, und genau das ist die Technik der modernen Agitation, sodass Ihre Analysetechnik dieser Agitationstechnik genau angemessen erscheint! Diese moderne Form der Agitation sehe ich in der Hand einer eher linken Agenda, hinter der wiederum meinetwegen nur Geschäftemacher stecken, die nützliche linke Idioten anwerben. Aber egal wie es sich letztendlich verhält, möchte ich einen Beitrag hier einfügen wenn erlaubt, der es ganz gut auf den Punkt bringt – vom tapferen Danisch, dem Kohlhaas der Gegenwart:
https://www.danisch.de/blog/2023/02/02/die-fatale-gefaehrlichkeit-der-20er-jahre/#more-54818
Ich erlebe einfach in meiner Birne, wie Sie, Danisch, Klonovsky, Science Files und all die anderen hervorragenden Blogs einfach Mosaiksteine liefern, die zusammen ein vollständiges kritisches Bild ergeben. Und jeder der Genannten auf seine individuelle, notwendige und einmalige Weise. So sieht für mich Verewigung aus, wenn ich mal pathetisch werden darf. Kunst lebt auf am Abgrund des Terrors.
Rudi
3. Februar, 2023Zitat:»Die Tatsache, dass die europäischen Juden zu den Weißen zählten und zählen, widerspricht dem Dogma, Weiße könnten nie Opfer von Rassismus, sondern nur Täter sein. Außerdem gehören die Juden zum Westen, also zu der Entität, die Fanon für so rassistisch durchtränkt hält, dass sie am besten verschwinden sollt. »
Dazu noch ein paar Anmerkungen:
Manche «Rechte» also wirkliche NAZIs sehen/sahen Juden nicht als wirklich weiß an. Beispielsweise wurde Heisenberg als «weißer Jude» diffamiert, weil seine Physik nicht in das Weltbild der «deutschen Physik» passte.
Sind die Gedanken der Aufklärung wohl gegen das Denken dieser Leute gerichtet? Der «Westen» hat ja die universellen Menschenrechte im Rahmen der Aufklärung «erfunden».
Majestyk
3. Februar, 2023Man könnte auch sagen «der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen».
Oder frei nach Berlin: «There is no business like shoa business!»
Im Übrigen wage ich es stark zu bezweifeln, daß die Judenverfolgung rein rassische Gründe hatte. Es ging vor allem um Ideologie, da braucht man Themen und Symbole um die Macht zu erringen, damals wie heute. Die Farbe der Ideologie ist gleichgültig. Und alle Sozialisten brauchen zunächst so etwas wie eine Anschubfinanzierung, ergo Enteignung. Die Nationalsozialisten hatten aber die global orientierte Verwandtschaft aus dem Osten als eindeutiges Feindbild entdeckt bei gleichzeitiger Gegnerschaft zum angelsächsisch geprägten Kapitalismus. Für beides machte man die Juden verantwortlich, deswegen raubte man ihnen erst den Besitz, grenzte sie aus, deportierte sie und wollte anschließend die Beweise verschwinden lassen.
Völkermord aus niedrigen Beweggründen
Majestyk
4. Februar, 2023Vor allem sollte man eines nicht vergessen, jene Juden waren zunächst Deutsche, später dann Polen, Niederländer oder Franzosen. Und die deutschen Juden definierten sich auch als Deutsche, das waren auch Deutsche, eben nur halt mit einem siebenarmigen Leuchter im Wohnzimmer statt einem Kreuz. Jene Juden hatten im Krieg davor noch für den Kaiser gekämpft. Die Nationalsozialisten verfolgten also Teile ihres eigenen Volkes, Menschen aus den eigenen Reihen. Das macht niemand aus rein nationalistischen Gründen, normale Menschen mit funktionsfähigem ethischen Kompass sowieso nicht.
Was der Nationalsozialismus oder auch der Kommunismus beweist, daß niemand sich sicher sein kann, wenn verblendete Geister die Macht erlangen.
Maru
8. Februar, 2023«Aus Fußnoten ergibt sich ein neuer Haupttext. Der Haupttext soll zur Fußnote herabsinken.»
Damit ist die Technik, mit der historische Sachverhalte absichtsvoll verdreht werden, auf den Punkt gebracht.
Erstaunlich, dass den Machern dieses simple Strickmuster abgekauft wird.
Es ist, als ob man Winston Smith bei seiner Arbeit im Wahrheitsministerium zuschaut.
Werner Bläser
3. Februar, 2023Wer sich über Kolonialismus und Imperialismus – abgesehen von den allseits bekannten Fällen – in Zusammenhängen fast oder auch gänzlich frei von europäischem Einfluss informieren will, findet sehr viele Beispiele.
Man kann nachschauen unter Königreich Shewa und Menelik II., aber auch unter dem Reich Kanem-Bornu und der kulturellen Elimination der Sao, unter der Ausdehnung der Zulu unter Shaka und vielem mehr. In Asien sind die Kämpfe des Khmer-Reichs mit den »beiden« Vietnam (Cham im Süden und Dai Viet im Norden) von Interesse (Literatur hierzu: S.K. Monoha, »Tea Ong, do all Khmer remember that story?«, in: ›Khmerization blogspot«, 13 Dec 2009; ›Cambodian-Vietnamese War‹, in: ›Alchetron‹, Nov 30, 2022, Abschnitt »history«; ‘Der Spiegel’, 7/1978, «Verschütte nicht den Tee deines Herrn»).
– Die zahllosen Beispiele zeigen, was eigentlich jeder – offenbar ausser unseren linken Wokies – weiss: Kolonialismus und Imperialismus waren zu allen Zeiten überall Teil der politischen Normalität – der Stärkere unterwarf den Schwächeren (sehr lesenswert dazu: Heinrich Zimmer, »Altindische Politik und der Geist des Abendlandes – der Brauch der Fische«, 1963).
Dass eine Weltgegend wie Europa, die führend in Wissenschaft, Technik und Militärwesen war, auch effizient kolonisieren kann, dürfte erwartbar sein. Dass das moralisch aus heutiger Sicht nichts rechtfertigt, ist eine andere Frage.
— Ein ganz ähnliches Wegblenden von offensichtlichen oder leicht eruierbaren Tatsachen findet sich bei Wokies auch zum Thema Rassismus. Hier simplifizieren und prokrustizieren sie in geradezu schamloser Weise. Alles wird auf die Dichotomie Schwarz gegen Weiss reduziert, wobei den Weissen die Rolle des ewigen Bösewichts und den Schwarzen die des Opfers zugeordnet wird. Absolut peinlich muss ihnen dann erscheinen, wenn sie mit der Nase auf Dinge gestossen werden, die so überhaupt nicht in ihr Weltbild passen; zum Beispiel Vorurteile, Hass und Diskriminierungen von Minoritäten untereinander.
Schon der Soziologie-Klassiker von Gordon Allport, »The Nature of Prejudice«, aus dem Jahr 1954, beschrieb in einem Kapitel solche Vorurteile zwischen Minderheiten.
Daran hat sich nichts geändert.
Cummings und Lambert fanden in ihrer Untersuchung (»Anti-Hispanic and anti-Asian sentiments among African-Americans«, in: ›Social Science Qu.‹, 2/97 – auf JStore lesbar), dass Afroamerikaner zwar nicht viel mehr, aber immerhin doch auch Vorurteile gegen bestimmte andere Minderheiten haben wie Weisse. Möglicherweise haben sich diese Vorurteile allerdings von 1997 bis heute verstärkt – das wäre angesichts des sozialen Erfolgs der Asiaten in den USA nicht erstaunlich.
Das Scheitern von ›Proposition 209‹, einem Versuch, »affirmative action« auf die Zulassung an Universitäten auszudehnen und Schwarzen einen Bonus zu Lasten der Asiaten zu geben, scheiterte vor nicht langer Zeit (s. ›Los Angeles Times‹, »Caliornia banned affirmative action…«, by Teresa Watanabe, Oct 31, 2022; ›ballotpedia‹, California Proposition 16, Repeal Propositon 209… 2020; allgemein: auch in den Wiki-Artikel »Inter-minority racism in the US« kann man hineinschauen). Hier dürfte für die Zukunft noch weiteres Konfliktpotential zwischen Schwarzen und Asiaten in den USA liegen.
– Die Haltung von Afroamerikanern gegenüber Juden gehörte zu den negativsten in der US-Bevölkerung; hier sind Vorurteile noch wesentlich ausgeprägter als unter weissen am. Nicht-Juden (s. »Black-Jewish relations: ADL [Anti-Defamation League] Survey finds anti-semitism high in black community«, Nov 1998). In den letzten Jahren sind schwarze Wortführer mit betont antisemitischen Äusserungen aufgefallen.
– Wenn solche Fälle von interminoritären Vorurteilen virulent werden, explodieren Twitter und Co. und ermöglichen so wunderbare sozialpsychologische Einsichten: Da nicht sein kann, was nicht sein darf, muss nach einem bequemen Schuldigen gesucht werden. Und der findet sich natürlich. Für Vorurteile der einen Minderheit gegenüber einer anderen ist grundsätzlich der Versuch von Weissen verantwortlich, Keile zwischen die verschiedenen Minderheiten zu treiben. Auch Linke tragen eben gerne Aluhüte, wenn ihnen danach ist (beispielhaft s. Kat Chow, »Model minority myth as a racial wedge between Asians and Blacks, in: ›npr.org‹, Apr 19, 2017).
– Natürlich werden Linke hier einwenden, dass Rassismus grundsätzlich nur von Seiten einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit möglich sei. Das finde ich allerdings verwirrend.
Im amerikanischen Süden der Vorbürgerkriegszeit war die Mehrheit der Weissen gegenüber schwarzen Sklaven und freien Schwarzen recht bescheiden: 5,5 Millionen Freie gg. 3,5 Millionen Sklaven; in einzelnen Staaten wie Mississippi war das Verhältnis sogar umgekehrt: 1860 standen dort 430.000 Schwarzen nur 350.000 Weisse gegenüber (s. ›Mississippi History Now‹, »The road to war«, C. Williams, April 2002).
Im kolonialen Indien war das Verhältnis Briten-Inder noch weiter auseinanderklaffend: Im Jahr 1814 befanden sich gut 25.000 Weisse in Indien, die einheimische Bevölkerung brachte es hingegen auf 40 Millionen; 1901 war das Verhältnis 170.000 zu knapp 295 Millionen (Wikipedia-Artikel »Demographics of the British Empire«).
Man muss wirklich vor Mitleid mit der armen britischen Minderheit in Indien zerfliessen – wie schlimm müssen sie diskriminiert worden sein durch die Mehrheit!
Dass Minderheiten Mehrheiten unterdrücken können, weiss eigentlich jeder – ausser unseren woken Geschichtsexperten.
– Ein weiteres Kapitel, das die Komplexitätstoleranz unsere lieben Wokies überfordert, sind Unterteilungen und Vorurteile innerhalb von Minderheitengruppen. Schwarz gegen Schwarz zum Beispiel.
Der Jazzklarinettist George Lewis berichtet in seinen Memoiren ( »George Lewis – a jazzman from New Orleans, 1977) aus dem alten New Orleans, dass er einmal in einem Lokal für Kreolen spielte. Als er um Wasser bat, gab man ihm eine Flasche – allerdings kein Glas; die hellhäutigeren, meist relativ gebildeten und wohlhabenden Kreolen hätten nicht mehr aus einem Glas getrunken, dass ein »American Black« benutzt hatte.
»Mulatten«« verschiedener »Helligkeitsgrade« schilderten oft ihre Wurzellosigkeit im Rassengefüge der USA. Sie wurden oft nicht nur von Weissen, sondern auch von Schwarzen abgelehnt (aufschlussreich dazu ist »Brass Ankles Speaks« der Louisiana-Autorin Alice Dunbar-Nelson , 1875-1935, oder verschiedene Geschichten von Grace King, 1852-1932; – Vorsicht, der Artikel »brass ankles« in Wikipedia ist historisch fehlerhaft!).
— Die angeführten Beispiele mögen darlegen, wie komplex und verschachtelt das Problem von Vorurteilen, Diskriminierungen, ethnischem Hass usw. ist. Unterschiedliche Machtpositionen von verschiedenen Gruppen sind zwar unleugbar vorhanden, können aber durch Gesetze in ihrer Wirkung eingeschränkt und durch höhere Bildung wenigstens teilweise gemildert werden. Machtpositionen können sich auch ändern – sie hängen nicht notwendigerweise mit einer Mehrheitsrolle zusammen. Auch publizistische Macht (die »Macht der intellektuellen Stammtische«) ist schliesslich Macht. Auf jeden Fall eignet sich das Thema nicht für krude Vereinfachungen, willkürliche Umdefinitionen der Realität und das Ignorieren von Tatsachen. Sonst produziert der an sich löbliche Versuch, gegen Diskriminierung zu arbeiten, selbst Vorurteile, Diskriminierung, und Hass.
Majestyk
4. Februar, 2023Unterm Strich haben die Europäer, speziell die Briten, während der Kolonialzeir dem Rest der Welt mehr gegeben als genommen. Das war schon bei den Römern so, die für etwas Tribut ihr Wissen in alle Teile ihres Reiches exportierten.
Mimus Polyglottos
13. Februar, 2023Wow, das ist mal ein Kommentar mit «Schmackes». KUDOS!
Angermann
4. Februar, 2023Dazu passt ja in bester Manier, dass Auschwitz angeblich von der RAF befreit wurde, wie die Ehefrau von Christian Lindner, FDP, Franca Lehfeld im ÖR zum besten gab. Tatsächlich war es jedoch die Rote Armee. Aber das zeigt nur einmal wieder, wie es in den Oberstübchen mancher linker «Journalisten» denkt.
Leider wird es nicht wenige geben, die das glauben oder unreflektiert hinnehmen, genauso wie sie hinnehmen, dass am Holocaust-Gedenktag der «queeren» Opfer gedacht wurde, die es gar nicht geben kann, weil weder diese Kategorie noch der dazugehörige Begriff zur Nazizeit existent war.
Thomas
6. Februar, 2023Verteilungskämpfe
Daß sich weltweit immer mehr Opfergruppen organisieren,
kommt eben irgendwann auch in den Opferligen der Welt an.
Jürg Rückert
8. Februar, 2023Ein sehr aufschlussreicher, sachkundiger Artikel!
«Aus Fußnoten ergibt sich ein neuer Haupttext. Der Haupttext soll zur Fußnote herabsinken.»
Als es in der Kirche um die Wiederzulassung Geschiedener und Wiederverheirateter ging (Amoris Laetitia), habe sich der Papst in der Synode gegenüber der Tradition nicht durchsetzen können. Da er aber der alleinige Herr der Endredaktion des Berichtes war, habe er über eine Fußnote die Mauer gesprengt.
Versierte Buchhalter, so konnte ich hören, bringen eine ganze Bad Bank in einer Fußnote unter.
Thomas
10. Februar, 2023Die Rhetorik in den Zeiten der Raute
Heute kommt so manche Fußnote dermaßen bestiefelt daher, daß man auch auf eine gewisse Fußnot in der Sache schließen könnte.
Aus Fußnoten ergibt sich ein neuer Haupttext. Der Haupttext soll zur Fußnote herabsinken.
Nun ja.
Ob die Verteidigung einer tatsächlich oder gefühlt guten Sache richtig ist oder ein tatsächlicher oder gefühlter Angriff auf diese,
https://www.danisch.de/blog/2023/02/07/freislers-rhetorik-ist-wieder-da/
das ist beim Tun so mancher „Verteidiger“ gar nicht so einfach zu beantworten. Es kommt im Großen und Ganzen wohl darauf an, ob es gescheite Menschen sind, die den Fuß in die Noten bringen. Die Gesänge der Fans sind da nur Beiwerk, meine ich.