Helden, Hunde, eine Expedition nach Deutschland, eine Kritik des Islam:
Publico Literatur-Winter II
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Von Alexander Wendt / / spreu-weizen / 27 min Lesezeit
Im Lockdown schrumpft der Radius des Lebens draußen. Im Inneren lässt er sich erweitern – durch Lesen. Publico empfiehlt vier neue Bücher: von Monika Maron, Jens Jessen und Ruud Koopmans.
Im Schlingpflanzenlabyrinth
Monika Maron erzählt von einem Gegenwartshelden – und sticht in neuralgische Punkte
Eine Novelle erzählt von einer unerhörten Begebenheit. Meist läuft sie auf einen Punkt zu, an dem etwas bricht, eine Ordnung, ein Leben, eine Gewissheit. Nach Theodor Storm ist sie darin die Schwester des Dramas. Monika Marons neuer Roman „Artur Lanz“ bewegt sich trotz seiner 224 Seiten in der Nähe einer Novelle. In ihr kommen gleich zwei unerhörte Begebenheiten vor, die das Leben der Helden in ein Vorher und Nachher teilen. Eine liegt gewissermaßen außerhalb der Handlung. Artur Lanz, einem Mann um die Fünfzig, muss etwas so Unerhörtes widerfahren sein, dass er wie aussortiert Tag für Tag auf der Bank eines begrünten Berliner Platzes sitzt und mit einem Stock Linien in den Staub zeichnet. Die deutlich ältere Erzählerin des Buchs, Charlotte Winter, wird auf ihn aufmerksam, spricht ihn an, und nicht gleich beim ersten Mal, aber nach einer Zufallsbegegnung später erzählt er ihr, wie sein altes Leben einstürzte.
Lanz rettet seinen Hund, der sich bei einem Spaziergang losgerissen hatte und in ein Rapsfeld gerannt war, aus diesen Schlingpflanzen. Er findet das Tier mit seiner verhedderten Leine gegen jede Wahrscheinlichkeit, er meint, dabei gerade noch einem Herzinfarkt entkommen zu sein. Am Ende des Abenteuers überwältigt ihn ein „wunderbares, ja, fast heiliges Gefühl. Ich hatte etwas Unmögliches gewagt, ich hatte sogar mein Leben riskiert. Für einen Hund“. Allerdings merkt er auch, dass er seinen Hund mehr liebt als seine Frau. Die Ehe geht zu Bruch. Sein Herz liefert den Infarkt nach.
Für wen würdest du dich ohne nachzudenken in ein Labyrinth stürzen, um den anderen zu retten? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Schriftstellerin Charlotte Winter, die gerade an einem Text über Helden und Heroismus sitzt. In Artur Lanz, den mit den Namen Artur und Lanzelot beladenen Gelegenheitsheroen, sieht sie ein lebendes Material für ihre Geschichte. Heroismus, das bedeutet: Wo liegt der unbedingte Punkt, für den jemand bereit ist, alles zu riskieren? Wie passt Unbedingtheit in eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, alles zur Verhandlungssache zu erklären?
Die Erzählerin Charlotte Winter, ehemals Verlagsmitarbeiterin, zu DDR-Zeiten in Distanz zum Staat, aber keine Oppositionelle, ist Monika Maron nicht ganz unähnlich, aber kein Selbstbildnis der Autorin. Winter liest sich durch die Heldensagen über König Artus, Lanzelot und andere, sie spricht mit ihren Freunden aus dem Berliner Intellektuellenmilieu über ihren Plan, etwas über Helden zu schreiben und merkt sofort, wie die anderen zurückzucken. So unzeitgemäß, wie eine Kulturbetriebsnudel es ihr sofort entgegenhält, ist ihre Frage nach dem Punkt der Unbedingtheit offenbar nicht.
Im Fortgang der Handlung trifft sich Lanz (und dann auch ein anderer Held des Buches) mehrmals mit der Erzählerin und liefert nach und nach die Akte eines Dramas, das sich in dem Institut abspielt, in dem er und ein renitenter Kollege arbeiten. „Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer“, heißt es bei dem Lyriker Thomas Brasch. Das gilt auch für den Beobachtungsposten der abgeklärten und scharfsichtigen Charlotte Winter: Ihr neuer Bekannter läuft durch ihr Leben. Die Handlungsfäden kommen bei ihr zusammen, ohne dass sie selbst viel dafür tun müsste.
Der Physiker Lanz arbeitet in einem Forschungsinstitut, das sich unter anderem mit der Weiterentwicklung von Windrädern beschäftigt – ihre Rotorenblätter sollen mit Duftstoffen versehen werden, die Insekten, Vögel und Fledermäuse fernhalten und so die Kollateralschäden an der Natur begrenzen sollen. Sein Kollege und Freund Gerald, so nimmt es Lanz wahr, steigert sich in die Überzeugung hinein, bei der Klimadebatte ginge es eigentlich um ein gewaltiges Erziehungs- und Gesellschaftsumformungsprojekt, er bezweifelt den Sinn des Energiesektorumbaus, und irgendwann tippt er den Satz von dem „Grünen Reich“ auf seine Facebookseite. Dort entdeckt ihn eine aufmerksame Institutsmitarbeiterin. Der private Kommentar entwickelt sich zum Instituts-Politikum, denn Gerald, ein sehr eigenwilliger Thüringer, will nichts davon zurücknehmen. Dann greift noch der Politiker einer „rechten Partei“ den Schlüsselsatz auf. Die Szene wird auf Betreiben der ehrgeizigen jungen Kollegin zum Tribunal gegen den Freund und Kollegen von Lanz, auf diesem Tribunal geht es gleich um eine ganze Sündenliste, angefangen von korrekter Geschlechtersprache, die Gerald verweigert, bis zu dem Verdacht des politischen Extremismus. Stecken nicht hinter dessen Liebe zum Thüringer Wald und seinem Gerede von Heimat ganz andere An- und Absichten? Der Mann mit dem Heldennamen teilt zwar die Ansichten seines Freundes in der Klimadebatte nicht, die Formulierung vom Grünen Reich kommt ihm kindisch vor. Aber war es vernünftig von seinem Hund, in das Rapsfeld zu rennen?
Von den Institutsmitarbeitern wird ein Bekenntnis für oder gegen den Kollegen verlangt. Lanz, der am Feldrand nicht lange nachdachte und überall dort, wo er nachdachte, Risiken aus dem Weg ging, muss sich jetzt entscheiden, ob er sich dem störrischen Freund zuliebe in ein Schlingpflanzenlabyrinth ganz anderer Art stürzt. Es handelt sich um keine große Unbedingtheit, nur eine kleinere, heruntergekürzt auf den bundesdeutschen Alltag im Jahr 2020 und damit passend für Jedermann.
Heldentum bedeutet für den Romanhelden, sich später nicht schämen zu müssen. Das ist nicht wenig. An einer Stelle spricht die Erzählerin Charlotte Winter von der „Abwesenheit von Bosheit, ohne unscharf zu sein“, die eingestreute Wendung verwendet sie für Fontanes „Stechlin“, den sie gerade liest. Aber die Formel passt auch für ihre teilnehmende Beobachtung. Und sie gilt für Marons Erzählton. Als abgeklärte, ältere Autorin erweitert sie die oft gestellte Frage “was ist los mit den Männern?“ auf die Frage: Was ist los mit der Gesellschaft, die schon von dem bloßen Wort Held neuralgische Schmerzen bekommt?
Neuralgische Schmerzen verspürten auch einige Rezensenten von „Artur Lanz“; der Tagesspiegel etwa veröffentlichte statt einer Besprechung eine Art politisches Gutachten mit eindeutigem Warnhinweis. In Marons Roman erscheint der Begriff ’Transformation’ mehrmals, einmal in Gestalt der Energiewende, über die am Institut gestritten wird, in der Heldenfrage, etwa, wenn die politisch korrekte Kulturbetriebsfunktionärin am Tisch ausruft, sie sei froh, in einer Gesellschaft ohne Testosteron zu leben, und Winter zurückfragt: Und was ist mit dem Islam, der gerade einwandert? Er wölbt sich über die einzelnen Handlungsteile. Wohin, fragt das Buch, transformiert sich ein Land, in dem sich ein Institutsmitarbeiter wegen eines Facebook-Kommentars auf der Anklagebank wiederfindet?
„Ich wunderte mich, warum nicht allein diese Formulierung die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, warum ihnen bei der Ankündigung einer Transformation ihres gesamten Lebens nicht wie mir reflexhaft die Namen Stalin, Mao und Pol Pot einfielen“, sagt sich Marons Figur Winter. „Vielleicht musste man tatsächlich Erfahrungen mit so einer Transformation gemacht haben, um ihren Ausgang zu fürchten.“
Dieser skeptische Blick aus Marons DDR-Erfahrung durchzieht das Buch.
’Skepsis’ ist wie ’Held’ zum neuralgischen, fast unerhörten Wort geworden. Monika Maron erzählt von beidem – ohne Bosheit, und mit Beobachtungsschärfe.
Monika Maron: Artur Lanz
S. Fischer Verlag, 224 Seiten, 24 Euro / Kindle 19,99 Euro
Eine Rüdin namens Bonnie
Ende 2020 wechselte Monika Maron zu dem Verlag Hoffmann und Campe, dort schien noch im Dezember „Bonnie Propeller“, ihre Erzählung über die zunächst nicht ganz einfache Beziehung der Autorin zu ihrem neuen Hund, genauer, der Hündin Bonnie, die nach dem Tod ihres alten Lebensbegleiters Momo ins Haus kommt. Es ist ein leichter, kurzer und liebevoller Text über Hund und Mensch, Erwartung und Anpassung, von Hoffmann und Campe mit handwerklicher Sorgfalt gestaltet, und ganz nebenbei beantwortet das Buch auch die Frage, was eine Rüdin ist.
Auch für Nichthundebesitzer einschränkungslos geeignet.
Monika Maron: Bonnie Propeller
Hoffmann und Campe, 64 Seiten, 15 Euro / Kindle 12,99 Euro
Die Deutschen – ein Bestimmungsbuch
Jens Jessen gräbt sich durch soziale Endmoränen
Vor einiger Zeit legte der Autor und Journalist Jens Jessen ein Essay über eine dünne und den Blicken normalerweise entzogene Gesellschaftsschicht vor: „Was vom Adel blieb“. An der Methode, sich einem Milieu wie ein Ethnologe auf Expedition zu nähern, hat Jessen offenbar Gefallen gefunden. Warum also nicht einmal die bundesrepublikanischen Deutschen in ihren verschiedenen Stämmen näher untersuchen? Mit „Der Deutsche. Fortpflanzung, Herdenleben, Revierverhalten“ legt er jetzt seinen Bericht vor. Um es vorwegzunehmen: Die Objekte-Subjekte seiner Neugierde können damit leben, vorausgesetzt, sie teilen seinen etwas distanzierten Blick, mit dem er die Deutschen mal aus dieser, mal aus jener Perspektive betrachtet, ohne festgelegten politischen Standpunkt, auch bekannt als Haltung. Rechte bekommen ihr Fett weg, Linke auch.
Geht das überhaupt: Mit ethnologischem Blick ein Kollektiv beschreiben, zu dem man als Autor selbst gehört? Es geht, weil es sich bei Jessen um einen Forschungsreisenden handelt, dem das Kollektive suspekt ist. Das bestimmt seinen Blick. Die meisten Deutschen, so sein Urteil, drängt es zur Gemeinschaft, soziale Unterschiede tarnen sie gern, ihre Verehrung gilt einem kunsthandwerklich gefertigten Natürlichkeitsbegriff. „Die Göttin der Gleichheit thront über allem“ – damit plaudert Jessen eine gut gehütete Offensichtlichkeit aus. „Elitär“ zählt zu den Vernichtungsurteilen. Einem Politiker beziehungsweise einer Politikerin, die von Kartoffelsuppe schwärmt, verzeihen erstaunlich viele Mitglieder dieses Kollektivs fast alles. „In einer absurden Verkehrung der realen Machtverhältnisse“, schreibt Jessen, „gilt Reichtum als volksnah – vielleicht, weil er von jedermann verstanden wird – , aber alles, worüber auch Ärmere verfügen könnten, insbesondere Bildung, Begabung, womögliche angeborene Vorzüge, als arrogant und elitär.“
Auf seinen Streifzügen urteilt der Autor meist weniger, als dass er beobachtet und skizziert: Sprache, Dialekt, Kleidung; einen Abschnitt, in dem ein wenig Herzensblut fließt, widmet er dem Wahn, Bildungsinhalte in Hochschulen müssten „zugänglich“ gemacht und deshalb von aller Komplexität befreit werden.
Das Bedürfnis, soziale Unterschiede nicht durch Aufstieg zu überwinden (was einmal das Ideal der alten Sozialdemokratie darstellte), sondern möglichst zu verschleiern, deutet er als Folge der großen Umbrüche: „Wer einen Garten oder ein Stück Landwirtschaft am Gebirgsrand oder im Umfeld einer eiszeitlichen Endmoräne hat, wird das Phänomen kennen: Auf ein und demselben Land können Lehm und Sand, sogar unterschiedliche Gesteinsstrukturen abwechseln. Was sonst in der Vertikalen aufeinanderfolgt, liegt hier plötzlich in der Horizontalen nebeneinander. Und genau so haben die historischen Umwälzungen, die verlorenen Kriege, Vertreibungen und gesellschaftlichen Umbauten beider deutscher Diktaturen die sozialen Schichten aus der Vertikale in die Horizontale gebracht.“
Den neuen Umwälzungsschub durch Corona, an dessen Ende von Kleingewerbe und Mittelstand deutlich weniger übrig sein wird, kann Jessen in dem 2020 erschienenen Buch noch nicht schildern. Aber er fügt sich wahrscheinlich in dieses Muster.
Jessen betreibt seine Erfahrungssoziologie fast ohne soziologisches Vokabular. Das macht seinen Essay angenehm lesbar. Seine Deutschen, muss man einwenden, sind eher Norddeutsche; Streifzüge in den tiefen Süden und Osten bleiben bei ihm vergleichsweise rar.
In seinem Buch gibt es Zuneigung, Distanz, manchmal Verwunderung, aber keinen Hass, der als nach innen gerichteter Fremdenhass ansonsten oft zur Tonlage gehört, wenn ein neuerer deutscher Autor über die Deutschen schreibt.
Jens Jessen: Der deutsche. Fortpflanzung, Herdenleben, Revierverhalten
Zu Klampen, 128 Seiten, 16 Euro / Kindle 11,99 Euro
Blutige Grenzen
Ruud Koopmans fragt, woher die Aggressivität des Islam kommt – und wohin sie führt
Der aus den Niederlanden stammende und an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Migrationsforscher Ruud Koopmans gehört zu den Wissenschaftlern, die nach dem Islam als Ganzes fragen. Diese Perspektive gilt identitätspolitisch beflügelten Wissenschaftlern und Publizisten längst als anrüchig, etwa der ebenfalls an der Humboldt-Universität lehrenden Migrationsforscherin Naika Foroutan. Der 1961 geborene Koopmans steht als Liberaler in der Mitte der Gesellschaft, als Niederländer ist er es gewohnt, über die Themen Migration und Islam offener zu reden und zu schreiben, als es in seiner Wissenschaftssparte in Deutschland üblich ist. Obwohl einige Eiferer seit Jahren versuchten, ihm das einfältige Etikett „umstritten“ anzuheften, schaffte es bisher niemand, dem Wissenschaftler wesentliche Fehlschlüsse nachzuweisen, erst recht nicht, ihn zu dämonisieren.
Mit seinem Buch „Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“ legt er ein Buch vor, das seine These schon im Titel trägt. Erstens nimmt er das in den Blick, was er den „real existierenden Islam“ nennt – also die Länder mit islamischer Bevölkerungsmehrheit, und die nennenswerten muslimischen Minderheiten in anderen Staaten. Schon diesen ganzheitlichen Blick lassen Islamapologeten bekanntlich nur selektiv zu, etwa in einer positiv gemeinten Formel wie „der Islam gehört zu Deutschland“. Bei jeder kritischen Betrachtung des Islam belehren sie dagegen regelmäßig die Öffentlichkeit, den Islam gebe es gar nicht. Zum zweiten präpariert er die Religion als Ursache für den Modernisierungsrückstand der islamischen Staaten, die kriegerischen Auseinandersetzungen und das weitgehende Scheitern der Integration von Muslimen in nichtmuslimischen Ländern heraus. Auch hier steht er gegen die apologetische Deutung, all diese Konflikte beruhten hauptsächlich oder vollständig auf „sozialen Ursachen“. Kürzlich stellten die „Faktenchecker“ der ARD die These vor, der Krieg der muslimischen Miliz im Norden Nigerias gegen die christliche Bevölkerung habe vorwiegend keine religiösen Gründe. Das dürften von allem die Soldaten von Boko Haram und deren Finanziers am Persischen Golf anders sehen.
Koopmans zeichnet den Aufstieg des politischen Islam seit den siebziger Jahren nach, dessen Kernbotschaft lautet: Alle Konflikte mit der Moderne, alle inneren und äußeren Widersprüche sind nur durch mehr Orthodoxie zu lösen. In dem herrschenden Glaubenssystem selbst sieht die Mehrheit der islamischen Länder keine Ursache von Problemen – eine Sichtweise, die auch praktisch alle Linken der westlichen Länder übernommen haben. „Die Diskussion über die Ursachen der Krise des Islam ähneln den Kontroversen im letzten Jahrhundert über die ‚wahre’ Natur des Kommunismus sehr“, schreibt Koopmans:
„Angesichts der Massaker des Stalinismus, der Millionen Opfer des Maoismus und der systematischen Menschenrechtsverletzungen in kommunistisch regierten Länder war die übliche Reaktion der Marxisten im Westen, dass die Verbrechen dieser Regime nicht mit dem ‚wahren Kommunismus’ zu tun hätten. Schließlich war die ‚wahre Lehre’ per definitionem demokratisch, friedlich, makellos und perfekt […] Ebenso reagieren viele Muslime und ihre Sympathisanten heute auf die weit verbreitete Unterdrückung und Gewalt in der islamischen Welt. All dies habe nichts mit dem ‚wahren’ Islam zu tun, und die verantwortlichen für Gewalt und Unterdrückung seien keine ‚echten Muslime’. Auch in diesem Fall steht diese Argumentation einer kritischen Reflexion darüber im Weg, warum Islam, Unterdrückung und Gewalt in der heutigen Welt so oft Hand in Hand gehen.“
Der Autor zerstört mit seinem Buch die Illusion vieler Westler, die Mehrheit der Muslime, die sich wie oben beschrieben Selbstreflexion verbieten, würden trotzdem irgendwie in die Weltmoderne hineinwachsen. Er rechnet vor, dass die Zahl der formal demokratischen Länder in den vergangenen zwanzig Jahren zwar weltweit gestiegen, in der islamischen Welt aber weiter gesunken ist. Und auch, wie sich die Lage für Frauen, Homosexuelle und Angehörige religiöser Minderheiten dort insgesamt noch weiter verschlechterte. Und auch das, was Samuel Huntington die „blutigen Grenzen“ des Islam nennt – die gewaltsam ausgetragenen Konflikte im Inneren und mit äußeren Feinden – nimmt zu, nicht ab. Im Jahr 1995 waren weltweit 42 Prozent der Länder, die bewaffnete Auseinandersetzungen führten, mehrheitlich islamisch. Zwanzig Jahre später lag der Anteil schon bei 53 Prozent. „Das verfallene Haus des Islam“ ist deshalb ein ambivalenter Titel: Es verfallen die alten vormodernen Gesellschaften, an ihre Stelle treten nach innen und außen meist instabile und aggressive Staaten, etliche davon dank ihrer Bodenschätze reich, wenn auch ohne sonstigen ökonomischen Unterbau. Gäbe es nur einen Verfall, einen kulturellen Niedergang, dann wären diese Länder nicht bedrohlich für ihre Nachbarn.
Einen größeren Abschnitt widmet der Autor dem Buch Huntingtons „Kampf der Kulturen“ von 1996, auf das, so Koopmans, viele Wohlmeinende im Westen bis heute reagierten „wie auf ein rotes Tuch“. Meist lautet deren Formel dann, es gebe keinen Kampf der Kulturen, oder: Man dürfe diesen Kampf nicht „herbeireden“. Koopmans teilt nicht alle Darstellungen und Schlussfolgerungen Huntingtons, stellt aber fest, dass die „blutigen Grenzen“ seit 1996 nicht weniger, sondern länger geworden sind. „Nach Ansicht vieler Kritiker“, spottet Koopmans, „ liegt das jedoch nicht daran, dass in Huntingtons Analyse ein Kern von Wahrheit steckt, sondern daran, dass seine Theorie diese Konflikte als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung erst geschaffen hat. Oft sind es dieselben Leute, die behaupten, dass der Inhalt eines Buches wie des Koran das Weltgeschehen nicht beeinflussen kann, die zugleich fest daran glauben, dass das Buch von Huntington die weltpolitischen Auseinandersetzungen überhaupt erst angeheizt hat.“
Seine Kritik an dem real existierenden Islam wie der westlichen Islamapologetik trägt Ruud Koopmans faktenreich und ruhig im Ton vor. Für einen realistischen Blick auf die Konflikte mit dem Islam, der mittlerweile auch in europäischen Ländern zum Machtfaktor wird, ist sein Buch unerlässlich.
Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt
C.H. Beck, 288 Seiten, 22 Euro / Kindle 16,99 Euro
16 Kommentare
Original: Helden, Hunde, eine Expedition nach Deutschland, eine Kritik des Islam:
Publico Literatur-Winter II
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Gotlandfahrer
20. Januar, 2021Zu: Blutige Grenzen
Die Gefahr durch den Islam geht weder von seiner Stärke noch von seinem Verfall aus, sondern allein von unserer Schwäche. Wären wir stark, wäre es egal, was «der» Islam tut oder nicht tut. Im Gegenteil: Wären wir stark, hätte er einen Grund, sich auf den Westen einzulassen, so tut er gut daran, nicht unsere Fehler zu kopieren.
kdm
20. Januar, 2021Der Autor lehrt an der Humboldt Uni. Schon dieser Ort disqualifiziert ihn.
Oder ist er dort die (geduldete) Ausnahme?
Publico
20. Januar, 2021Nein, dass er an der Humboldt-Universität lehrt, disqualifiziert ihn nicht, genau so wenig, wie der Ort, an dem jemand lehrt, ein positives Qualifikationsmerkmal ist. Einen Autor sollte man außerdem nach seinen Büchern beurteilen.
-Redaktion
pantau
21. Januar, 2021@kdm
Wenn man seine Thesen kennt (aber sie wurden ja auch hier vorgestellt), ist er offenkundig die Ausnahme von der Regel an der Humboldt Uni. Ich denke man hat es nur nicht geschafft, ihn wegzumachen.
Thomas
20. Januar, 2021Monika Maron und Ruud Koopmans, gut.
Aber Jens Jessen? Bitte was?!
In der Münchner U-Bahn trat anno 2008 ein „Jugendlicher“ vor laufender Überwachungskamera einem deutschen Rentner mit seinem Schuh und Anlauf ins Gesicht. Rrrummms. Der „Jugendliche“ und sein Kumpel taten derlei, weil der Rentner auf ein Rauchverbots-Schild hingewiesen hatte.
Kurz zuckte die versammelte Habermas-Soziologie zusammen, dann nannte Herr Jessen das Geschehen öffentlich einen «Zusammenstoß», dessen «Auslöser» er in einer «langen Reihe von Gängelungen» sah und sehr pointiert gipfelte: «Ob es nicht zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt». Die empörten Reaktionen gingen auf das Kerbholz von «Rechts». Die Anwälte der «Jugendlichen» suchten nach «Rassismus» – wer hätte das gedacht. Später kamen die «Gegängelten» in den Knast.
Deutsche Rentner wissen seit 2008 (seit 2015 und erst recht seit 2020) so manches besser, aber was der Herr Jessen heute besser weiß, oder seine Genossen, das interessiert mich nun wirklich nicht
punktum
Publico
20. Januar, 2021Lieber Leser,
dem Autor der Rezensionen ist Jens Jessens damaliger Videokommentar über den Angriff auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn bekannt. Wahrscheinlich ist, dass Jessen ihn heute so nicht mehr abgeben würde. Publico versteht sich mit seinen Texten generell und bei seinen Rezensionen als Medium, das anregt und Angebote macht. Nur Bücher von Verfassern zu besprechen, deren Äußerungen der Rezensent immer und überall zustimmen kann – das wäre eine Verengung, auch eine Verarmung in einer Zeit, in der es anderswo schon genügend Verengung gibt.
Alexander Wendt
Thomas
20. Januar, 2021Lieber Herr Wendt.
Sehr richtig. Wahrscheinlich gibt es sehr wenige Bücher, deren Äußerungen ein Leser immer und überall zustimmen kann. Meine Kritik richtet sich natürlich nicht gegen die Buchbesprechung an sich, im Gegenteil. Ich habe lediglich etwas gegen den Autor. Ausgrenzung liegt mir fern. Man muss sich die Dinge zur Brust nehmen.
Das mag so sein. Das gilt für viele Kommentare, natürlich auch für die meinen.
Immerhin, der Herr Jessen sprach sich 2017 für eine Schließung der Hamburger Roten Flora aus und erwähnte die «offen zur Schau getragene Feindseligkeit» gegenüber Männern (eine so genannte „Schriftstellerin“ hatte 2017 in einem Interview erklärt, man müsse «eine feministische Terror-Gruppe gründen, um die alten weißen Männer aus dem Weg zu schaffen.»).
Nur nützt so etwas längst nichts mehr, denn beispielsweise publiziert derlei schöngeistig kritisierte „Schriftstellerei“ im S. Fischer Verlag, erhält den Uwe-Johnson-Förderpreis, wird für den aspekte-Literaturpreis sowie den Ulla-Hahn-Autorenpreis nominiert, gelangt auf Platz 5 der Radio-Eins-Bücherliste und der Bayerische Rundfunk produziert ihr Hörspiel. (Dazu reicht ein zweiter Blick auf Wikipedia)
Apropos S-Fischer Verlag: Bekanntlich beendet dieser nun die 40-jährige Zusammenarbeit mit der durchaus empfehlenswerten Monika Maron. Nachtigall, …
Was ich mit meinem Kommentar sagen will: Nach meinem Dafürhalten enthält jeder Artikel auf Publico mehr Wahrhaftigkeit als gewisse zeitgenössische Schöngeist-Bücher. Danke für die Buchempfehlungen. Monika Maron lese ich bereits.
Ruud Koopmans kann ich mir ja mal ansehen. Der Mann ist zwar bei den Grünen, aber ich habe mir sagen lassen, dass es auch dort Leute geben soll, die noch bei Trost sind. Mal sehen.
Gerüchte. 🙂
Mit freundlichen Grüßen
Thomas
Hans Maas
20. Januar, 2021Thomas hat 100 Prozent Recht. Verprollung. Von ganz oben so gewollt.
Thomas
22. Januar, 2021Verprollung. Von ganz oben so gewollt.
Es scheint manchmal so.
Nun, Gleich und Gleich gesellt sich immer wieder gern. Das gilt für politische Biotope, und natürlich gilt das auch für das „Kasperle, Gretel, Oma, Polizist und Krokodil“-Spiel. Das ist heute in führenden Kreisen sogar modern. Man nennt es nur anders. 🙂
Wer sich führende Gestalten in Politik, Wirtschaft und Kultur ansieht, stellt verwundert fest, daß sich die Bildungskatastrophe selbst in Institutionen und Parlamenten tummelt (manchmal tumultet). Ein Wunder ist das nicht, denn den Leuten im Lande wurde jahrzehntelang eingeflüstert, die Dinge „mit dem Herzen“ zu sehen. Allerdings ist ein Herz dazu nicht fähig, es erkennt in politischen Dingen kein politisches Einmaleins, keine Ökonomie oder Rechtsordnung an, sondern lediglich „Politische Schönheit“. In Schlagertexten mag das angehen. In der politischen Praxis kommt Unfug bei so etwas heraus. Manchmal Schlimmeres.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas
pantau
21. Januar, 2021Danke Thomas für die Info. Ich erinnere mich noch an dieses Schlüsselereignis, ich hatte es schon damals sofort so eingeordnet, daß eine eigentlich schon längst ausgestorbene Spezies (der Bürger (Gymnasialdirektor a.D.), der gegen asoziales Benehmen selbstbewußt angeht) auf einen neu aufkommenden Hyänen-Typus (der Tiervergleich ist gewollt) trifft und…..getötet wird.
Meine Frage war damals: wieviele Morde passieren allein deshalb nicht mehr, weil man um diesen Hyänentypus gelernt hat einen Bogen zu machen und sie gewähren zu lassen in ihrem Treiben.
Dennoch finde ich gut, daß Wendt auch solch einem Nachtreter nochmal ne Chance gibt. Wobei ich gelernt habe: einmal Nachtreter, immer Nachtreter. Dafür ist das Nachtreten zu erheblich schäbig, als daß es nicht angeboren wäre. Aber man sollte nie die Suche nach Ausnahmen aufgeben.
Thomas
22. Januar, 2021Gern geschehen.
Diese Buchbesprechung ist nicht nur gut (das sehe ich ebenfalls so), sondern fällig. Danke dafür!
Aber man sollte nie die Suche nach Ausnahmen aufgeben.
Sehr richtig.
Auf ein Wort:
„Wer in der Öffentlichkeit Kegel schiebt, muß sich von jedem sagen lassen, wieviel Punkte er geworfen hat – darüber ist nicht zu reden. Wenn aber zwei Elemente zusammenstoßen, so ist der Klang, den es gibt, ein Produkt beider; man kann nicht sagen, daß nur eines daran schuld sei. (…).“
(Tucholsky Kurt, August 1929)
Das stimmt in der Regel, und das gilt natürlich auch für Buch und Leser. Ich bin aber eben der Ansicht, daß das nicht für einen Kopf und einen Turnschuh in einer U-Bahnhaltestelle gilt. Daß der Herr Jessen das aber anders sieht („Zusammenstoß“, siehe oben), das spielt für mich bei der Lektüre seiner Bücher eine Rolle.
Immerhin: In der „Zeit“ durfte ich vor Jahren mal einen Artikel des Herrn Jessen über Frau Wagenknecht lesen, der mich angenehm berührt hat. Am schönsten schreibt der Mann wenn er über Schönes schreibt. Er sieht mit dem Herzen. Das ist nicht schlimm (!).
Aber das Politische sollte er tunlichst lassen. Es steht im Ergebnis seiner Haltung nicht gut zu Gesicht.
Nichts für ungut. Eine Meinung ist kein Verbrechen. 🙂
Mit freundlichen Grüßen
Thomas
Erich H. Ulrich
20. Januar, 2021Interessante Tipps, danke:
Zwei schon gelesen, das dritte bestellt.
Jens Richter
20. Januar, 2021Zur verqueren Logik gegen Huntigton fällt mir ein jüdischer Witz ein: ein Rabbi möchte einen Abendspaziergang machen. Seine Frau warnt ihn: «Im Dorf laufen bissige Hunde herum!» – «Meine Liebe, im Talmud steht, wie man sich verhalten muss, wenn bissige Hunde kommen: ich setze mich ganz ruhig auf den Boden.» Etwas später kehrt der Rabbiner blutend und mit zerrissener Kleidung zurück. «Nu»?, fragt die Frau. «Nu! Wie kannst du erwarten, dass bissige Hunde diese feine Talmudstelle kennen?»
Werner Bläser
21. Januar, 2021Huntingtons Thesen zur Kultur im allgemeinen sind grosso modo längst bewiesen, etwa am Beispiel der Gründe, warum sich manche südostasiatischen «Tigerstaaten» ökonomisch entwickelt haben, andere Staaten, etwa in Afrika, hingegen nicht. Es gibt jede Menge empirische Untersuchungen. Allerdings bei den Ökonomen, andere Geisteswissenschaftler scheinen davon weniger Notiz zu nehmen.
Wichtiger dafür als das genannte Werk ist dabei noch das, was H. zusammen mit Lawrence Harrison herausgegeben hat: «Culture Matters – How Values Shape Human Progress» (2000). Das lohnt absolut die (Wieder-) Lektüre.
Ebenso lohnt sich die Neuherausgabe von 2019 von Herrmann Lübbe, «Wider den politischen Moralismus», ursprünglich erschienen 1984. Wer sich eine Kurzübersicht verschaffen will, der kann den Artikel von Ferdinand Knauß in der ‘WiWo’ vom 23.6.19 lesen («Politischer Moralismus führt in die Unmoral»). Aber das Original ist wirklich extrem lesenswert.
Nicht neu herausgegeben, aber immer noch hochinteressant ist das Buch von Arnold Gehlen, «Moral und Hypermoral», von 1969. Wer wissen will, wo die Wurzeln unserer sektiererischen Anywhere-Weltverbesserer und Inquisitoren liegen, wird hier fündig.
Nur wenig jünger ist Helmut Schelskys «»Die Arbeit tun die anderen – Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen» (1977); ein Buch, das die gegenwärtige Situation Deutschlands beschreibt wie kein zweites mir bekanntes. Wenn je ein Autor prophetische Gaben hatte, dann Schelsky, der 1984 verstarb.
– Die genannten Werke enthalten jede Menge schlüssiger Argumente gegen den sich entwickelnden Irrationalismus. Aber gegen Sektenglauben, lustvolle Ketzer-Hatz und Obskurantismus sind rationale Argumente wohl vergeblich.
Heimdall
21. Januar, 2021Sehr geehrter Herr Wendt,
Ich bin seit langem stiller Leser Ihres Blogs.
Ich habe schon viele positive Impulse zum Selberdenken und anderen Betrachtungen des Zeitgeschehens, von Ihnen und auch Ihre Leserbriefschreibern erhalten.
Besonders gefiel mir heute der Kommentar von Thomas zu dem feinen Herrn Jessen.
Ich hatte den Namen und dessen kaltschnäuzige Ansichten zum Thema Importgewalt gegen Deutsche wohl 2008 in der Jungen Freiheit kennenlernen dürfen.
Ich kenne sonst keine anderen Schreibereien dieses Mannes und werde meine Zeit auch nicht mit solchen verschwenden.
Für mich ist dieser Mensch schlicht ein Antideutscher und Schlipsantifa, der als Büchsenspanner für seine Fußtruppen agiert. Natürlich streng dem linken Humanismus à la BRD verpflichtet.
Es wird uns und damit meine ich im weitesten Sinne Konservative, Heimattreue und Nichtlinke nichts helfen, diesen Leuten fair, redlich oder auf Augenhöhe zu begegnen. Dieser Gegner um nicht Feind zu schreiben, lügt, betrügt, verdreht und wird mit Milliarden von Steuergeldern von den Machthabern zum Kampf bis zum Endsieg über uns vollgepumpt. Diese Leute werden uns und unsere abweichenden Meinungen nie akzeptieren, weil wir ihnen versichern wie nett und harmlos wir sind und auch ihre geistigen Ergüsse lesen. Im Gegenteil – diese Leute werden nicht ruhen bis sie uns zum Schweigen oder nötigenfalls unter die Erde gebracht haben. Für mich artikuliert Jessen das ‘Deutschland verrecke’ oder ‘nie wieder Deutschland’, nur etwas feiner verpackt als der primitive Schlachtruf der Schlägerbanden, mit denen er sicher kein echtes Problem hat, denn die bekämpfen ja das Böse im Gegensatz zu ihm, mit guter alter deutscher ‘Handarbeit’ (Zitat Stokowski) auch so ein liebes Herzchen.
Ihre Sichtweise auf Leute diesen Schlages, könnte mit unter auch der Grund sein, warum Konservative sprichwörtlich immer verlieren.
Gruß, Heimdall
Werner Bläser
22. Januar, 2021Ergänzung zum Islamismus: Das Buch von Prof. Bernard Rougier, Territoires conquis par l’islamisme, von letztem Jahr, jetzt ergänzt und erweitert, erscheint neu in den nächsten Tagen. Rougier beschreibt, wie der Salafismus in Frankreich ganze Gegenden und Stadtviertel komplett «erobert» hat. Im aktuellen «L’Express» gibt es mehrere lesenswerte Artikel über den Islamismus (zu lesen nach Einschreibung mit Mail-Adresse, ähnlich wie bei der NZZ).