Wie sich Egon Krenz und Claus Kleber um die Freiheit verdient machten. Außerdem: lustige Sockenpuppen im Vergleich
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Von Alexander Wendt / / medien-kritik / 26 min Lesezeit
Lange war es still um Claas Einzelfall Relotius, seit er einen Mississippidampfer an der Außenalster bestieg und damit ins untergehende Paris fuhr. Der Medienbetrieb hat seitdem bewiesen, dass er den Reporter ohne Grenzen für seinen Normalbetrieb nicht braucht.
Jetzt allerdings grüßte ein Phantom in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, um sich dort ein bisschen um die Storyline des Artikels zu Claas E. Relotius zu kümmern. In dem überarbeiteten Text verglich ein Autorenkollektiv den berühmtesten Ex-Mitarbeiter des Spiegel nicht nur mit Karl May und Egon Erwin Kisch. Es widerlegte auch noch die ehrenrührige Behauptung, Relotius habe gegenüber seinen Kollegen in Hamburg eine krebskranke Schwester erfunden, die er pflegen müsse, und lud zum Beweis einen Artikel aus der Welt hoch, in dem es hieß, Relotius’ ehemaliger Ressortleiter gehe gerichtlich gegen diese Darstellung in dem Buch des Spiegel-Journalisten Juan Moreno über Relotius „Tausend Zeilen Lüge“ vor.
Dann stellte sich durch eine Recherche des Schweizer Tagesanzeigerheraus, dass es sich bei dem Wikipedia-Autorenkollektiv „Snapperl“, „PreRap“ „Rubbelsnuff“, „Klußmann“ und „Laugwitz“ um ein und dieselbe Person unter verschiedenen Noms de plumes handelte – so genannte sock puppets, Sockenpuppen – und bei dem präsentierten Welt-Artikel um eine Komplettfälschung. Die IP-Adresse eines der Wikipedia-Überarbeiter führte ins norddeutsche Seevetal, einen kleinen Ort ganz in der Nähe von Relotius’ Heimat Tötensen. Bei der Person handelt es sich also sehr wahrscheinlich um einen Norddeutschen m/w/d mit viel Tagesfreizeit und einem obsessiven Bezug zum Thema. Der Anonymus meldete sich mittlerweile mit der Botschaft: „Nein, ich bin nicht Claas Relotius.“ Eigentlich fehlte noch die Mitteilung: „Und schizophren sind wir auch nicht.“
Wer auch immer hinter der Person mit den vielen Namen steckt: Da ist etwas Unabgegoltenes. Wir werden von ihr noch hören. Auf der anderen Seite bestärkt der Fall leider alle im Mediengeschäft, die Relotius unter individueller Pathologie abbuchen.
Bei Wikipedia finden sich übrigens Eingriffe mit ganz anderer, nämlich langfristiger Wirkung, über die die Weltwoche kürzlich berichtete: Demnach stammt die überwiegende Mehrzahl aller deutschsprachigen Einträge in der Web-Enzyklopädie zum Thema Klima von einem einzigen Vollzeitaktivisten. Formal ist das allerdings in Ordnung, die Person ist schließlich kein Karl May, sondern nur der Hans Joachim Schellnhuber von Wikipedia.
In der vergangenen Woche ging auch die Debatte über Meinungsfreiheit in Deutschland weiter voran, jene Debatte also, die nach Ansicht vieler Wohlmeinender überhaupt nicht geführt werden muss, weil jeder alles sagen kann und ein Meinungskorridor nicht existiert. Diejenigen, die das meinen, stehen nur korridorförmig nah beieinander, beispielsweise Claus Kleber vom ZDF, der von der Süddeutschen Zeitung zum Thema befragt wurde.
Kleber stellte zum einen fest: „Man darf nicht behaupten, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei, nur weil man keinen Widerspruch erträgt.“ Leider ohne mitzuteilen, wer das behauptet, von Claus Klebers Sockenpuppe einmal abgesehen. außerdem gab der Ankermann des ZDF noch folgendes zur Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland zu bedenken:
_„Ich habe Freunde in der türkischen Presse, für die ein einzelner Satz in einer Glosse Haft bedeuten kann, Die fahren jeden Tag mit einer gepackten Notfalltasche zur Arbeit, weil sie damit rechnen müssen, dass sie die Nacht hinter Gittern verbringen. Mit diesen Menschen sollte man sich vergleichen bevor man sagt, meine Meinungsfreiheit wird eingeschränkt.“
_
Danke für den Hinweis. Die Idee, eine Lage mit einer deutlich schlechteren zu vergleichen, ist ausbaufähig. Die türkischen Journalisten, die von Verhaftung bedroht sind, könnten sich sagen, dass sie viel besser dran sind als die Kollegen, die schon im Knast sitzen. Und für diejenigen, die dort sitzen, wäre es eine große Erleichterung, sich wiederum mit Insassen nordkoreanischer Straflager zu vergleichen. Vergleich macht eben nicht nur reich, sondern auch frei. Schön ist es auch, in einem Statement, das die unbeschränkte Meinungsfreiheit unterstreichen soll, einen Satz mit „man darf nicht behaupten“ anzufangen.
Bis eben noch galt es in Mitteleuropa – jedenfalls für den Autor diese Textes – als übliche Praxis, den Zustand der Demokratie an den eigenen Ansprüchen zu messen und nicht an den Idealen autokratischer Gefängniswärter. Denn letztere Vergleichssorte führen, wie übrigens auch die meisten Kleber-Interviews, zu ziemlich überraschungsfreien Ergebnissen.
Da eben das Stichwort Überraschung fiel: Zum 9. November schenkten die neuen Eigentümer der Berliner Zeitung – das bis dahin nicht in der Medienbranche beheimatete Berliner Ehepaar Silke und Holger Friedrich – ihren Lesern ein Manifest, von dem man sagen kann, dass es tatsächlich etwas Ungewöhnliches in der Zeitungslandschaft darstellt. Und zwar schon wegen seines Umfangs von gut 26 000 Zeichen. Silke & Holger Friedrich, um einmal die Höhepunkte abzuarbeiten, loben zum einen den letzten Staats- und Parteichef der DDR Egon Krenz dafür, dass er weder die Leipziger Demonstranten am 9. Oktober noch die Berliner vor der Mauer am 9. November 1989 zusammenschießen ließ:
_„Wohl wissend, dass er damit seine hohe soziale Stellung aufs Spiel setzte, auch einen möglichen Verlust des eigenen Lebens in der Entscheidung zu berücksichtigen hatte. Egon Krenz hat mit dieser persönlichen Entscheidung Millionen Menschen selbstbestimmte, positive Lebenswege ermöglicht, die uns unter anderem diesen Text in dieser Zeitung veröffentlichen lassen.“
_
Nun danket alle Krenz, den Schenker selbstbestimmter Lebenswege. Übrigens, die Grenzsoldaten am 9.11.1989 wussten noch gar nichts von Schabowskis Pressekonferenz kurz vorher, als die Massen vor ihrer Schranke standen, sie bekamen auch keinen Nichtschießbefehl von Krenz, sondern ihr Kommandeur handelte aus eigenem Entschluss, das nur am Rande.
Silke und Holger Friedrich finden des Krenzdankes nicht nur kaum ein Ende, sondern halten es auch für maximal undufte, dass er sich wegen der Mauer- und Grenztoten verantworten musste: „Dafür sind wir ihm dankbar und möchten fragen, ob es in gleichem Maße groß war, ihn neben anderen zu viereinhalb Jahren Haft zu verurteilen.“ Nun sind viereinhalb Jahre für Totschlag in einer hohen Zahl von Fällen eine außerordentlich milde Strafe, außerdem durfte sie Krenz überwiegend als Freigänger abdienen. Vom allgemein unbedankten Freiheitskrenz geht es im Manifest flott zur EU-Außengrenze:
_„Es ist gesamtgesellschaftlich akzeptiert, die DDR auch wegen ihres Grenzregimes einen Unrechtsstaat zu nennen. Ist Europa mit all den Toten an seinen Außengrenzen, dem stetigen Aufrüsten zur Überwachung des Mittelmeers demnach ein noch größerer Unrechtsstaat, werden uns später unsere Kinder fragen. Können wir diese Frage mit gleicher moralischer Kraft beantworten? Es gibt noch viele Mauern, die es zu stürzen gilt.“
_
Der Unterschied zwischen: keinen eigenen Bürger rauslassen und nicht alle Migranten reinlassen scheint den neuen Zeitungseigentümern ebenso unerheblich wie der Zusammenhang von Schlepperintensität und Zahl der Toten im Mittelmeer.
Dann geht es – ist der mild bestrahlte DDR-Verweser eigentlich der heimliche Sockenpuppenspieler dahinter? – schon wieder um Krenz und jetzt auch um Merkel:
„Und so wie wir Herrn Krenz dankbar sein müssen, sollten wir Frau Merkel dankbar sein dafür, dass wir im ‚Sommer des Willkommens’ von 2015 beweisen konnten, auch anders zu können.“
Denn:
„Wir tragen Scham in uns, für die Taten unserer (Ur-)Großeltern, und wir können stolz auf unsere Kraft sein, zu dieser Scham zu stehen und unsere Schuld abzutragen. Nur wenige Nationen sind in der Lage, kollektiv zu erkennen, dass sie anderen Nationen oder Ethnien Unrecht angetan haben, noch weniger sind bereit, ihrer Opfer zu gedenken, und um wie viele Nationen wissen wir, die es soweit brachten, ihren Opfern Mahnmale zu bauen?“
Kraft durch Scham – diese Losung ist immerhin nicht ganz unoriginell. Nur wenige bauen derart schöne Mahnmale für ein paar Millionen Ermordete. Das macht uns keiner nach, ebensowenig die Öffnung für den massenhaften Zuzug einiger zehntausend habitueller Antisemiten ein paar Jahrzehnte später. Weil die einheimischen Fachkräfte knapp werden?
Ganz am Ende heißt es dann noch:
„Lassen Sie uns dankbar dafür sein, dass wir diesen Text straffrei schreiben und Sie diesen Text straffrei lesen dürfen.“
Dürfen wir nicht. Es gibt (siehe ganz oben) ganz bestimmt Schlimmeres, aber wenn es keine Strafe sein sollte, den Silke & Holger-Text durchzulesen, damit sie es nicht zu tun brauchen, dann sollte zumindest der Strafarbeitsbegriff neu definiert werden.
Manche Qualitätsmedien verschenken Abos, manche, eine nicht mehr so große Süddeutsche Zeitung zum Beispiel, machten bis Halloween das Sondersonderangebot von einer Ausgabe für einen Euro. Andere wie der Dumont-Verlag verramschen gleich ihre gesamten Blätter, unter anderem eben die Berliner Zeitung an ein Pärchen, mit dem die finale Plemplemisierung des alten Medienbetriebs einen großen Sprung nach vorn macht.
Wobei: vieles von dem, was die beiden meinen, meinen auch andere, die neuen Zeitungseigner formulieren es nur etwas ungeschickter. Den Unterschied zwischen Mauern, die keinen rauslassen, und Sperranlagen, die zum Schutz dienen, war auch den Veranstaltern der großen ZDF-Schau zum Mauerfall entbehrlich. Dort strahlten die Veranstalter unter anderem auch den Schriftzug: „Schluss mit der Besatzung“ auf Hebräisch an eine symbolische Weltkugel; es ging in der Vorführung ganz allgemein um das Niederreißen von Mauern. Der Bau des schönsten Holocaustmahnmals der Welt und die schamkräftige Belehrung lebender Juden gerade zum 9. November zeigen noch einmal eindrücklich, dass die in Deutschland beliebtesten Juden nicht umsonst Herr und Frau Stolperstein heißen.
Der Autor dieser Zeilen hätte schon Ideen, wie er das Elend vieler Zeitungen mildern könnte. Aber sollte mir eine Gazette angeboten werden – Dumont hat ja noch nicht alle los – dann gehe ich noch weiter als Arsène Wenger beim FC Bayern, ich rufe noch nicht mal zurück.
22 Kommentare
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Noack
12. November, 2019Ein typischer Wendt – einfach großartig! So sehr viel besser hätte auch ich das nicht ausdrücken können 😉
Kurt-Thomas Haupt
13. November, 2019Richtig – Wendt gehört unangefochten zur Spitze.
Grand Nix
12. November, 2019«Kraft durch Scham – diese Losung ist immerhin nicht ganz unoriginell.»
Ganz richtig, Herr Wendt. Da bleibt einem die trockene Freude gleich im feuchten Mauerwerk stecken. Lassen Sie uns die «finale Plemplemisierung des alten Medienbetriebs» in aller Ruhe genießen. So etwas Originelles passiert schließlich nicht alle Jahre – und macht übrigens höllisch Spaß.
Silke & Holger Friedrich sind würglich ein aufreizendes Paar. Wie spannend diese Herrschaften Geschichtsklitterung betreiben, gähn, einfach köstlich. Und dann möchten sie auch noch ein totes Pferdchen neu Aufbrezeln und zureiten, direkt aus den großen Stallungen von Karl May?
Alle Achtung!
Ach, und übrigens … im Garten der hehren Heuchelei hängen noch viele faule Früchtchen. Sie können diese Früchtchen in aller Ruhe Stück für Stück pflücken oder aufsammeln. Hauptsache, Sie versäumen es nicht, uns selbige – gut geschüttelt und gerührt – zu kredenzen.
Besten Dank!
irgendwer
13. November, 2019Nun danket alle Krenz…
Ich habe Berichte von beiden Seiten der Leipziger Demo vom 09. Oktober 1989 gehört. Der eines NVA-Offiziers und Zugführers einer NVA-«Einsatzhundertschaft» wusste zwar nichts von der dortigen Demonstrantenzahl von 70.000 – er meinte, es waren genug (nennen wir sie mal so) Sicherheitskräfte zusammengezogen worden, um mit 100.000 Demonstranten fertig zu werden/ deren Demonstration zu zerschlagen. Gekommen seien aber 300.000. Da man nicht hätte gewinnen können, fing man eine Konfrontation gar nicht erst an…
Selbst wenn mir meine Erinnerung einen Zahlen-Streich gespielt haben sollte, die Grundaussage ist deutlich: Es war zu wenig Polizei/ Stasi/ NVA vor Ort, um die Demonstration zerschlagen zu können. Nur darum gab es keine Gewalt.
Zur friedlichen K-/ Grenzöffnung: einer kleinen Meldung war zu entnehmen, dass der damalige Verteidigungsminister Keßler einen Tag nach dem 09. November 1989 an die 1. Mot. Schützendivision («Verteidiger von Berlin») den Befehl gab, die Grenze wieder zu schließen. Der Befehl sei aber durch den Generalstab zurückgehalten worden.
Ich war recht überrascht, soeben einen Wikipedia-Eintrag zu besagter Division zu finden und zu lesen:
«Im Rahmen der Ereignisse um den Fall der Berliner Mauer ordnete SED-Generalsekretär Egon Krenz am Morgen des 10. November 1989 erhöhte Gefechtsbereitschaft für die 1. MSD und das LSR 40 an. Soldaten und SPW 70 wurden aufmunitioniert, ein Einsatzbefehl blieb aber aus. Die erhöhte Gefechtsbereitschaft wurde am Nachmittag des nächsten Tages wieder aufgehoben.[6]»
https://de.wikipedia.org/wiki/1._motorisierte_Sch%C3%BCtzendivision#Mauerfall
Die Langversion im Spiegelartikel: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9223663.html
Die 1. Mot. Schützendivision hatte im Januar 1990 übrigens gemeutert. Für eine Woche waren alle Offiziere ausgesperrt worden und es gab die Drohung, nach Berlin zu marschieren – wenn nicht sofort alle entlassen würden. Im Anschluss wurden die Dienstzeiten aller NVA-Soldaten und Unteroffiziere auf Zeit «auf Antrag» halbiert. Davon liest man aber bei Wikipedia und Spiegel nichts. Das kolportierte nur mein damaliger Batteriechef, halb angewidert von der Meuterei, halb beeindruckt von der eisernen Disziplin, mit der die Division vorging («Keine einzige Waffenkammer wurde geöffnet!»)
Hajo Blaschke
13. November, 2019@ irgendwer
Das stimmt wohl nicht. Ich habe am Vorabend des 9. Oktober Unmengen von Militär in die Stadt Leipzig fahren gesehen. Das Militär wurde entlang des Leipziger Rings in den Nebenstraßen positioniert.
Am Morgen des 9. Oktober wurden (zumindest war das bei Takraf und Baukema so) alle Abteilungsleiter sowie die Gewerkschaftsvertrauensleute und Abteilungsparteiverantwortliche zu einer großen Runde mit Parteileitung beordert.
Thema war die anstehende Montagsdemonstration, bei der von fast einer halben Million Teilnehmer auszugehen wäre. Alle Anwesenden wurden durch die Parteileitungen aufgefordert, in ihren Abteilungen die Information kundzutun, dass an diesem Abend von den Schusswaffen gegen die Demonstranten Gebrauch gemacht werden wird und ein Blutbad bei Widerstand nicht auszuschließen sei.
Die abkommandierten Kampfgruppeneinheiten fraternisierten sich dann im Verlauf der Demonstration mit den Demonstranten und kein einziger Aufmarsch von Militär in Leipzig erfolgte.
irgendwer
14. November, 2019@Hajo Blaschke
Das mit der Fraterniesierung ist mir neu, aber plausibel.
Der Schusswaffengebrauch wurde – ich oute mich – so etwa August/ September 1989 in den NVA-Parteigruppen zur Sprache gebracht.
Schon vor meinem Wehrdienst hatte ich, im Vergleich zweier alter NVA-Offizierskalender aus den 80er und den 70er Jahren, festgestellt, dass der ältere seinen größeren Umfang u.a. dem Abdruck der Haager Landkriegsordnung verdankte. Daher konnte ich das betretene Schweigen auf die Frage, wie wir zum Schusswaffengebrauch gegen «Konterrevolutionäre» stünden, mit dem Verweis auf dieses Regelwerk beenden. Jeder stimmte mir anschließend zu, dass von der Schusswaffe gegen Zivilisten nur in Notwehr Gebrauch gemacht werden dürfe. Mir selber brachte das wohl die Versetzung aus einem «Schlägertrupp» in die «Rückwärtigen Dienste» unserer sog. Einsatzhundertschaft ein. Ich gehe daher davon aus, dass auch die Bildung bewaffneter NVA-Einheiten (Parteieinheiten?) für den Einsatz gegen Demonstranten geplant war. Vermutlich nahmen aber in unserer Brigade die meisten dieser Versammlungen einen ähnlichen Verlauf, denn bei einem späteren Brigadeappell erklärte der Kommandeur, dass Einsätze nur mit polizeilichen Hilfsmitteln ausgeführt würden. (Abgesehen von einer Alarmübung der Einsatzhundertschaft geschah bei uns – in Thüringen – aber auch nichts weiter.)
Die Situation in Leipzig kenne ich nur vom Hörensagen. Zum einen durch einen Kommilitonen, der als OaZ besagter Zugführer einer Einsatzhundertschaft und mit dieser in (oder bei) Leipzig eingesetzt war. Ob die Schilderungen so stimmen weiß ich nicht, ich weiß nicht einmal, ob er wirklich Artillerist war oder tatsächlich in einer anderen «Sparte» gedient hatte. (Da bei uns selbst die Nachrichteneinheiten «Batterien» waren, geführt von einem «Batteriechef», mein Kommilitone aber von «Kompaniechef» sprach, läge das nahe. Es sind in der Umbruchphase sicherlich nicht alle Stasi-«Wachsoldaten» zu Bereitschaftspolizisten «umfirmiert» worden. Zweifel an seiner Schilderung, warum die Demonstration nicht angegriffen wurde, begründet das für mich aber nicht, eher das Gegenteil.)
Zum anderen war ein Freund bei der Demo in Leipzig dabei und schilderte mir seinen Adrenalinschub, als neben dem Demonstrationszug kurz ein Eingangstor geöffnet wurde und im Hof eine abgesessene Hundestaffel zu sehen war. (…und seine Freude, als die Demonstranten «den Ring» schlossen…)
Zusammen mit den Vorkommnissen im Vorfeld – sogar unsere Raketenbrigade wurde in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober in Erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt («Arbeitseinsatz Grün»); die Offiziersschüler in Löbau verbrachten diese Nacht, nach Schilderungen eines Schulfreundes, mit Waffen und scharfer Munition auf den Kasernenfluren, die Fallschirmjäger-OS waren voll bewaffnet ausgerückt – habe ich keine Zweifel daran, dass die SED zunächst eine «chinesische Lösung» wollte. Nur musste sie Fraternisierung, sicher nicht nur der Kampfgruppen*, fürchten. Was schlussendlich den Ausschlag gab, auf Gewalt zu verzichten, ist entweder nicht erforscht oder nicht sehr publik gemacht.
(* Das war eine Art «DDR-Nationalgarde» – schlechter bewaffnet aber angeblich besser motiviert, da freiwillig; mit diesem freiwilligen Dienst konnte man sich allerdings eine längere Einberufung als Reservist ersparen…)
Alles in allem ist die SED-Propaganda recht schnell auf den Zug der «Friedlichen Revolution», E.K.: «Wende», aufgesprungen. Wohl auch deswegen ist das Thema nicht sehr dankbar, bedürfte aber trotzdem einer gründlicheren Aufarbeitung. Solange das noch möglich ist – die Protagonisten werden ja auch nicht jünger.
Eva Rachor-Waldeck
13. November, 2019Danke Herr Wendt, vor allem für den Ausdruck Plemperisierung des Medienbetriebes. Und die Darstellung der stets groß aufgemachten angeblichen Trauer um die toten Juden, symbolisiert durch das bröckelnde Mahnmahl in Berlin und die Stolpersteine. Die Aufmerksamkeit, die medial den Lebenden entgegengebracht wird, beschränkt sich auf Schelte, weil sie sich seit Gründung Israels weigern, sich von ihren Nachbarn ins Meer treiben zu lassen.
Jens Richter
13. November, 2019WiderSPRUCH: da steckt Spruch/Sprechen drin. Das Kreischen eines Säuglings oder einer Politikerin ist noch kein Sprechen. Prügeln und Farbbeutelwerfen auch nicht. Wenn wir Freuds Phasenmodell zugrunde legen, stecken diese Kreischerinnen und Farbbeutelwerferinnen zwischen der oralen und analen Phase fest.
V. Meier
13. November, 2019Apropos Relotius: Mein Freund Michael Born mußte in den Knast, weil er mit ein paar erfundenen Geschichten u.a. Günther Jauch «versorgt» hat. Und Relotius läuft frei herum? Nicht, daß ich es ihm wünsche, ins Gefängnis gesteckt zu werden, aber wieso macht man hier so einen Unterschied?
Dreggsagg
13. November, 2019Ein sauberer Artikel, mit feiner Ironie geschrieben.
Die «Plemplemisierung» hat es mir besonders angetan!
Wenn man allmorgentlich wegen fehlender Alternativen den täglichen Plemplem lesen muß, den uns die Mainstreammedien auftischen, ist ein Artikel im publicomag eine Erholung.
Die Anzahl jener, die sich lieber in Internetforen informieren, als in den gleichgeschalteten Merkelmedien, nimmt stetig zu. Gut so!
Bert
13. November, 2019«Plemplem» der meinungsführenden Medien muss doch niemand mehr lesen, ich jedenfalls nicht. Und das tut gut. Zum Glück gibt es tolle Alternativen: hier, mit Tichys Einblick, mit achgut, etc. Und überall erkennen wir in den Kommentierungen klar: Wir sind nicht alleine. Wir können etwas bewegen, wenn wir es wirklich wollen. Die Zeit ist einmal mehr reif, so wie vor 30 Jahren.
Karlheinz Weber
13. November, 2019Es macht viel Mühe, kostet Zeit und Geduld, die Plemplemisierung durch Wirrköpfe und Maultaschen bloßzustellen. Aber Sie schaffen das immer wieder, Herr Wendt. Immer wieder Dank!
HaPé
13. November, 2019Super Artikel! Genauso isses ….
Zabka
13. November, 2019Der Vergleich mit Egon Erwin Kisch ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn auch Kisch, der legendäre „rasende Reporter“, hat ganze Geschichten frei erfunden und so hingedreht, dass sie ihm in den sozialistischen Kram passten: „Ich lutschte an meinem Bleistift. Entlutschte ihm, daß das Städtische Nachtasyl in der Nähe der Schittkauer Mühlen lag. Mein Bleistift trieb eine Gruppe von Obdachlosen zum Brandplatz…“. Den Brand gab es real, der erfundene Obdachlosen-Kitsch hat die Geschichte dramatisierend abgerundet. „Vielleicht geschah es bei dieser Gelegenheit“, schrieb Wolfgang Röhl vor Jahren, also lange vor Relotius, „dass Kisch erstmals die Vorzüge der Falschmeldung erkannte. Man hat sie, so ein betagter Journalistenscherz, exklusiv.“ – Röhl, wie immer ungemein unterhaltsam: http://www.achgut.com/artikel/schreib_das_um_kisch.
Gustav Jaspers
13. November, 2019Die absolut beste und treffendste Beschreing der aktuellen Situation «finale Plemplemisierung des alten Medienbetriebs».
H Schauer
13. November, 2019«Plemplemisierung»
….wird mit ZEHN von zehn möglichen Punkten bewertet…
Die Vereinigung zur Vereinfachung der Bewältigung des Masochismus von Medienabhängigen.
Andreas Rochow
20. November, 2019Das ist «einfache Sprache» in ihrer schönsten Form: Plemplemisierung! Der Begriff sollte mit einem entstehungsgeschichtlichen Hinweis auf die merkelistische Hofschranzenpresse als Neuwort in den Duden aufgenommen werden.
qed
13. November, 2019Was mir immer öfter auffällt: Die Spitzenschreiber im alternativen Netz sind häufig ehemalige DDR-Insassen wie Wendt und Klonovsky. Mal abgesehen davon, daß sie in DDR-Schulen noch die deutsche Sprache und Grammatik bis ins Detail erlernt haben (ich hatte als Sekretärinnen in der Postwendezeit gerne welche «von drüben», da ich als Dialektsprachler alemannischer Provenienz doch öfters ins Straucheln kam und der partielle Analphabetismus westdeutscher Schulabgänger schon früh anfing). Dazu die mühsame Übung, von Kindesbeinen an mit geschliffenem Sprachduktus die Klippen politischer Korrektheit zu umschiffen und geradezu legendär das verbotene Offensichtliche zwischen die Zeilen zu legen zum Ärger der Zensoren- Künste, die heute wieder sehr gefragt sind.
Chapeau, Herr Wendt. Und wieder einen Obulus in den Klingelbeutel!
Gerhard Sauer
15. November, 2019Gleich nach der Sitzung des ZK der SED am 9. November 1989 eilte Egon Krenz zu Erich Honecker, um sich die Schlüssel für die Tore der Berliner Mauer zu holen. Das ZK hatte gerade eine sog. „zeitweilige Übergangsregelung für die ständige Ausreise aus der DDR“ beschlossen. Krenz ahnte, daß mit dieser Regelung der Fall der Mauer unausweichlich sein würde. Listig hatte er darauf bestanden, daß sie erst am folgenden Tag, dem 10. November, in Kraft treten sollte. Dem mußte er zuvorkommen, es war seine letzte Chance, in die Annalen der Geschichte einzugehen. Der 9. November war ein geschichtsträchtiges Datum der deutschen Geschichte. An diesem Tag mußte es geschehen.
Honecker weigerte sich zunächst, die Schlüssel herauszugeben. „Warum willst du die Schlüssel haben“, fragte er.
„Ich will sie an einen sicheren Ort bringen, damit sie nicht in falsche Hände fallen.“, antwortete Krenz.
„Aber wo können sie sicherer sein als bei mir“, meinte Honecker.
„Quatsch nicht, gib sie sofort heraus, sonst erlebst du was!“
„Das könnte dir so passen. Ich habe die Mauer gebaut, also gehören sie mir.“
„Her mit den Schlüsseln!“ brüllte Krenz, packte Honecker an der Gurgel und drückte zu. Honecker wehrte sich verzweifelt und beide stürzten zu Boden. Krenz kniete sich auf Honeckers Brust und drückte fester zu. Honecker lief im Gesicht blau an und röchelte. Das hörte Margot Honecker im Nachbarzimmer, besorgt stürzte sie herein.
„Um Marx willen, was geht hier vor? Warum hockst du auf Erich und drückst ihm die Luft ab?“
„Ich will die Schlüssel für die Mauertore. Der will sie nicht herausrücken. Ich bring ihn um!“
„Hör sofort auf, bitte. Ich gebe sie dir.“
Margot ging zu einem Wandschränkchen, entnahm ihm einen Schlüsselbund und warf ihn Krenz zu. Augenblicklich ließ der von Honecker ab, stürmte aus dem Haus und rannte Richtung Mauer. Überrascht befand er sich sofort in einer riesigen Menschenmenge, die gleich ihm zur Mauer lief. „Was geht hier vor?“, fragte er die Nächststehenden. „Ja, hast du denn nicht gehört, daß die Mauer offen ist? Der Schabowski hat es gerade im Fernsehen verkündet.“ Verdutzt blieb Krenz wie angewurzelt stehen. Ist ihm dieser Drecksack also zuvorgekommen! Schon seit langem hat er gegen ihn intrigiert und nun hatte er ihn mit einer Megaintrige in Mark und Bein getroffen. Schlaff wankte Krenz zum Palast der Republik und schlug verzweifelt seinen Kopf gegen die Mauer. Dann sank er zu Boden und weinte bitterlich. Das wäre sein Tag gewesen, noch in tausend Jahren hätte man von ihm bewundernd als dem mutigen Maueröffner gesprochen. Würdig hätte er sich eingereiht in den Reigen anderer Öffner, wie z. B. Dosen- und Flaschenöffner. Wie sie wäre er nützlich gewesen, ein Nützling nach all den Jahren als devoter Diener Honeckers in der zweiten Reihe. Aus der Traum, der Sozialismus ging glanzlos unter und mit ihm Egon Krenz.
Andreas Rochow
20. November, 2019Was wäre die Berliner Zeitung ohne den erhofften Subventionsregen? Sind die Friedrichs vielleicht dubios finanziert? Bei so viel «vorauseilendem» Dank und quasi hundertprozentiger Zustimmung zu Merkels unerhörten Rechtsbrüchen wird die Förderung mit Steuergeld von den Abo-Vermeidern nicht ausbleiben. Silke und Holger Friedrich setzen ein beschämendes und unmissverständliches Zeichen dafür, dass in Merkel-Deutschland jetzt die Zeit reif ist für eine Hofschranzen-Gazette. Nur als Übergang, versteht sich, bis von Merkels Nationaler Front 2.0 im Bundestag eine Zwangsgebühr für ausgewählte Blätter beschlossen wird.
Rechte Medien Info
21. November, 2019Seevetal ist kein kleiner Ort sondern die größte Gemeinde Deutschlands ohne Stadtrecht mit 43.000 Einwohnern, mit dem größten Verschiebebahnhof Europas und einem Autobahnkreuz mit 5 Abzweigern in alle Himmelsrichtungen.
Tötensen ist ein Ortsteil von Rosengarten, Wohnort von Dieter Bohlen.
Wenn man man sich auf nölend-plärrende Medienkritik spezialisiert hat, sollte man auch solche Kleinigkeiten selbst recherchieren (z.B. Google / Google Maps) und sie nicht von den anderen abschreiben.
Werner Bläser
23. November, 2019Warum hacken alle auf diesem hochmoralischen Verlegerpaar herum? Ich finde ihre Argumentation zur Lobpreisung von Krenz ausbaufähig. Vielleicht beglücken sie uns ja noch mit weiteren ausführlichen Texten über zu Unrecht gescholtene historische Persönlichkeiten.
Vielleicht singt das hochmoralische Pärchen demnächst einmal ein Loblied Adolf Hitler? War es denn nicht schliesslich Hitler, der indirekt zu unserem freiheitlichen Grundgesetz, unserer Demokratie (wenn man sie noch so nennen kann) und zu strahlenden Heldenfiguren wie Heiko Maas, Claudia Roth, oder der Antifa geführt hat?
Oder auch der arme, verkannte Pol Pot in Kambodscha, von dem die rechte Reaktion doch glatt behauptete, er sei einer der schlimmsten Massenmörder der Weltgeschichte. Nur ein Häuflein aufrechter Linker hat den armen Mann damals verteidigt, mit Noam Chomsky an der Spitze (s. NZZ, Ein schrecklicher Irrtum, 7.6.18)
Massenmörder? Dabei ist es doch ganz leicht, das Gegenteil zu beweisen: Pol Pot war Kommunist, und Kommunisten sind per definitionem sowieso gut – man siehe die schöne Beweisführung von SPD-Granden nach den Krawallen beim letzten Hamburger WW-Gipfel: «das KÖNNEN keine Linken gewesen sein, weil Linke so etwas nicht tun, und wer es doch tut, ist kein Linker».
– Wer nun glaubt, Linke hätten irgendwie einen Sparren locker, wenn sie sich ihre atemberaubenden, fakten- und logikfreien, Orwell’schen Gedankenschraubereien drechseln, der irrt.
Nein, sie sind, meistens jedenfalls, völlig normal: völlig normale Heuchler.
(Dazu ein Literaturtipp: Malcolm Bradburys Roman ‘The History Man’, 1975; ist wirklich amüsant zu lesen, wenn einem das Lachen nicht im Hals steckenbleibt, weil man sich an so viele real-life Typen erinnert fühlt).