Kalenderblatt: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“
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Vor 30 Jahren fand die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 7 min Lesezeit
„Die Lage ist so, Genosse Minister“, rapportierte der Leiter der Leipziger Stasi-Bezirksverwaltung Manfred Hummitzsch bei der Dienstbesprechung am 31. August dem MfS-Chef Erich Mielke: «Nachdem jetzt acht Wochen Pause war – und wir dort außer ein paar unbedeutenden Einzelbewegungen im Vorfeld der Kirche, die wir unter Kontrolle hatten – findet jetzt zur Messe am 4.9., 17:00 Uhr, das erste Mal wieder dieses operativ relevante ‘Friedensgebet’ statt.“
Dieser 4. September fiel in die Woche der Leipziger Herbstmesse, in der Stadt gab es also westliche Kamerateams und Augenzeugen. Trotzdem, meinte Hummitzsch, werde die Staatssicherheit eine Demonstration verhindern können: „Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie.“
Dem riesigen Sicherheitsapparat standen Anfang September 1989 nur einige dutzend Bürgerrechtler gegenüber, die sich montags zum Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche trafen. Und trotzdem geschah an diesem 4. September vor 30 Jahren etwas Ungeheures: Es kam zur ersten Montagsdemonstration in Leipzig. Von diesem Tag sammelten sich jeden Montag um 17 Uhr Menschen auf dem Nikolaikirchhof, von Woche zu Woche mehr. Am 25. September liefen sie zum ersten Mal auf dem sechsspurigen Innenstadtring, achttausend. Am 9. Oktober waren es 70 000, trotz der Drohung eines Kampfgruppenkommandeurs, „den Sozialismus, wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. Genau einen Monat später – friedlich demonstrierte wurde da längst in der gesamten DDR – fiel die Mauer.
Am Anfang standen zwei Frauen, die am 4. September 1989 das erste Transparent des Revolutionsherbstes entrollten: „Für ein offenes Land mit freien Menschen.“ Die Malerin Katrin Hattenhauer, Jahrgang 1968, und die Verlagsmitarbeiterin Gesine Oltmanns, geboren 1965, wussten, worauf sie sich einließen. Das Stoffstück mit dem Slogan war nur für Sekunden zu sehen – dann stürzten sich Stasi-Männer darauf, und rissen es herunter. Anders als bei früheren Demonstrationen nahmen das die Oppositionellen nicht schweigend hin, sondern skandierten: „Stasi raus.“
Staatssicherheit und Polizei verzichteten auf Verhaftungen – denn auf dem Platz standen auch Journalisten und fotografierten die Szene. Die Festnahme von Oltmanns und Hattenhauer holten sie einige Tage später nach, am 11. September. Gesine Oltmanns hatte schon im Anfang 1989 10 Tage in Stasihaft gesessen, weil sie zu den Organisatorinnen der oppositionellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 15. Januar gehört hatte.
Zu den Montagsgebeten waren seit August auch mehr und mehr Ausreiseantragssteller gekommen, ihr Ruf draußen vor der Kirche lautete: „Wir wollen raus“. Am 4. September gab es neben dem Transparenz und „Stasi raus“-Rufen noch ein anderes Novum, etliche Demonstranten skandierten: „Wir bleiben hier“. Ihr Ziel, das machten sie damit deutlich, war nicht die kleine Lösung, die Ausreise in den Westen. Sondern die große – die Veränderung in der DDR.
Im Westen erschienen die Bilder der kleinen Demonstration und des Stasi-Zugriffs, auch in den Nachrichten der ARD, in der DDR dagegen keine Zeile. Auch in der Leipziger Volkszeitung nicht.
Die meisten Medien in der Bundesrepublik sahen in dieser Ur-Montagsdemonstration bestenfalls ein lokales Ereignis. Die DDR galt ihnen als stabil; sie interessierten sich vor allem für die Frage, welcher SED-Politiker irgendwann auf Erich Honecker folgen würde. Von seiner Reise durch die morsche DDR 1986 berichtete ZEIT-Chefredakteur Theo Sommer: „Vor allem wirkt das Land bunter, seine Menschen sind fröhlicher geworden.“ Und glaubte wahrzunehmen, dass die DDR-Bürger Erich Honecker „fast so etwas wie stille Verehrung entgegenbringen“.
Für die anschwellenden Demonstrationen im Herbst 1989 hatte Gorbatschows neuer Politikstil die Voraussetzung geschaffen. Aber die Veränderung hätte es nicht gegeben ohne Menschen wie Hattenhauer und Oltmanns, die bereit waren, den kleinen Freiraum zu nutzen, der sich geöffnet hatte, ein Transparent hochzuhalten – und dafür ins Gefängnis zu gehen.
6 Kommentare
Original: Kalenderblatt: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“
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Tobias Gall
4. September, 2019Immer deutlicher wird mir, was für eine erbärmliche Figur Theo Sommer doch war.
caruso
4. September, 2019Zum Zitat von Theo Sommer: Die Medienleute und die Politiker jener Zeit sahen die Realität genau so wenig, wie sie es heute sehen. Ehre der wenigen Ausnahmen! wie immer.
lg
caruso
Dr. habil. W. Manuel Schröter
5. September, 2019Möchte wirklich mal wissen, woher Theo Sommer damals seine Informationen bezog. Oder mit wem er zusammentraf…
Fakt ist, dass sich die meisten DDR-Bürger trotz Stasi und trotz SED ziemlich freimütig äußerten, wenn sie untereinander waren (auch auf die Gefahr hin, dass ein Spitzel unter den Diskutanten war). Und wenn sie nicht untereinander waren sondern in der «Öffentlichkeit» wurde Kritik als «helfend» im Sinne «wir sind für die DDR» geäußert, eine Vorsichtsmaßnahme, die Heutigen vielleicht nicht mehr so ganz verständlich ist. Obwohl: Wer heute nicht als «Rechter» apostrophiert werden will, der äußert sich, wenn überhaupt, in der Öffentlichkeit ähnlich verhalten!
Also hat wahrscheinlich Herr Sommer darin die «sowas wie heimliche Verehrung für Honecker» gesehen und auch den Sarkasmus der Menschen als Fröhlichkeit interpretiert…
Ich weiß, wovon ich hier schreibe: 1986 war ich 39 Jahre alt und hatte mich dem Leben in der Diktatur perfekt angepasst: Man kann ein gutes und gedanklich innerlich freies Leben («Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!») auch im falschen Leben erleben! Aber von diesem dann auf das Allgemeine schließen zu wollen: Da hat Herr Sommer damals daneben gehauen (und nicht nur er, denn wenn ich früh DLF im Autoradio bei der Fahrt durch das «Tal der Ahnungslosen» hörte, habe ich manche sich als falsch bewertete Information herausstellende Nachricht gehört!).
Ich habe nach der «Wende» jahrelang intensiv «Die Zeit» gelesen; Ende der 2000er Jahre habe ich sie dann abbestellt: Mehr und mehr tendenziös.
Und nochmals: Es bleibet dabei…
Albert Schultheis
5. September, 2019Nur: Die StaSi hat stillgehalten, hat sie machen lassen. Und jetzt sind sie wieder da! Mit voller Deutungshoheit, von der Linke-SED, über die Grünen und weite Teile der SPD bis ins Mark der CDU – allen voran die Kanzlerin.
War die «Wir sind das Volk!»-Revolution ein singulär friedlicher und erfolgreicher Umsturz und Befreiungsakt in der deutschen Geschichte, so war dennoch das Stillhalten, der lange Atem und die Wiedergeburt der SED und der StaSi der viel viel klügere, infamere und wirkungsvollere Staatsstreich: Ja, die gaben die marode alte DDR auf, dafür holten sie sich das reiche und strahlende vereinigte Deutschland.
Bei Mergern in der Industrie hat man solche Vorgänge des Öfteren beobachtet, in der Politik waren wir viel zu naiv, diese Machenschaften zu durchschauen. Vor allem wurden sie unterstützt von einem bereiteilligen, linksromantischen und ideologisch verblendeten Medien- und Kulturapparat sowie den nach links gewendeten Kirchen im Westen. Interessant ist gerade die Rolle der Kirchen in beiden Umsturzbestrebungen!
Die Montagsdemonstranten haben sich mutig befreit, unter dem frenetischen Beifall des Westens, um sich heute in einer neuen, perfideren DDR 2.0 wiederzufinden. Irrwitz der Geschichte!
D.Benway
5. September, 2019Mein Vater holte mich damals im September 89 in unser Wohnzimmer in Leipzig-Plagwitz. Ich war im Sommer 13 geworden und hatte gerade meine ersten Karl May Romane gelesen. Er packte mich bei meinen Schultern und sagte: «Junge, ich geh jetzt demonstrieren. Wenn ich nicht zurückkomme, passt Du auf Mutter und Deine Geschwister auf!». Ich hatte furchtbare Angst, dass ihm was passieren könnte, deswegen stellten wir auch eine Kerze ins Fenster. Jeden Montag wurden es mehr Kerzen.
Joachim Kortner
7. September, 2019@D.Benway: Ihr Leserbrief gehört in die Geschichtsbücher aller Schularten. Es ist nicht die durch Historiker und Schulbuchmacher kastrierte Abstraktion von Geschichte. Das ist die eigentliche Geschichte. Es ist die Wahrheit.