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Politik, Gesellschaft & Übergänge

Eine materialistische, flammende Bewegung

Original post is here eklausmeier.goip.de/wendt/2018/12-eine-materialistische-flammende-bewegung.


Ist Gewalt womöglich das einzige, was den peripheren Franzosen endlich Aufmerksamkeit verschafft? Archi W. Bechlenberg geht durch das vorweihnachtliche Paris – und erkennt seine Lieblingsstadt kaum wieder

Von Archi W. Bechlenberg / / politik-gesellschaft / 25 min Lesezeit

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Da ist dieses Bild, eingefangen von einer Livekamera aus ein paar Metern Höhe. Man sieht die weihnachtlich-prachtvoll geschmückten Bäume der Champs-Elysées, ungezählte Lichter blinken in pink und weiß. Und unter den Bäumen bewegen sich Menschen, in gelben Westen, stehen in kleinen Gruppen zusammen oder zu zweit oder einzeln, drehen sich um sich selber, warten, erwarten. Nein, sie sind nicht zum Weihnachtsbummel unterwegs. Ihnen geht es ums Ganze.

Paris, das ist meine Stadt seit Jahrzehnten. In der Vorweihnachtszeit treibt es mich hinaus, zu den großen Kaufhäusern am Boulevard Haussmann zwischen der Chaussée d’Antin und der Place St. Augustin, wo man in den Schaufenstern von La Fayette und Le Printemps wunderbare, aufwändig gestaltete Tableaus bewundern kann, in denen sich alles bewegt. Die Kinder können gar nicht genug davon bekommen, den auf schöne, altmodische Weise mechanisch animierten Figuren dabei zuzusehen, wie sie in lebensgroßen Küchen, Dachböden oder Fantasielandschaften ihren Unfug treiben. Für die ganz Kleinen stehen direkt vor den Scheiben Podeste, auf die sie von ihren Eltern gestellt werden, was gar nicht so einfach ist, denn hinter den Podesten stehen in mehreren Reihen dicht gedrängt Erwachsene, die sich vermutlich aus ihrer Kindheit noch an diesen Brauch erinnern und sich das Spektakel ebenfalls nicht entgehen lassen wollen.

Doch in diesem Jahr gibt es keine Idylle. Als die Stadtverwaltung die Pläne für den diesjährigen Schmuck der Straßen und öffentlichen Gebäude aus den Schubladen zog und die Ateliers der Kaufhäuser an den lebenden Bildern arbeiteten, konnte niemand ahnen, mit welcher Wucht eine Wut Fahrt aufnehmen würde, die sich nun seit Wochen in Frankreich Luft macht, vor allem in Paris. „Seit Wochen“, das ist nicht ganz präzise, man muss sagen, seit nunmehr vier Wochenenden. Wäre diese Wut seit Wochen, also Tag für Tag, aktiv, wäre Paris, die „Stadt der Liebe“ und „der Lichter“ vermutlich schon ein einziges Trümmerfeld. Man stelle sich vor, seit Wochen wären pausenlos Polizeikräfte von nahezu 10.000 Beamten rund um die Uhr im Einsatz und müssten Straßenkämpfe ausfechten mit Gegnern, die sich nicht nur aus unzufriedenen Bürgern rekrutieren, sondern zu einem wachsenden Teil auch aus militanten Krawallmachern, die weder auf Leben noch Eigentum Anderer Rücksicht nehmen. Zum Glück, muss man sagen, ist ein großer Teil der ursprünglichen, bürgerlichen Gilets Jaunes die Woche über an ihren Job und ihr familiäres Leben gebunden. Also der Teil der französischen Mittelschicht, der dank der herrschenden Politik mit ihrem Einkommen nicht mehr auskommen.

„Es ist eine Bewegung, die den Grundbedürfnissen entspringt“, meint der Soziologe Geoffroy de Lagasnerie: „Jemand, der in Frankreich vom Mindestlohn lebt, hat monatlich rund 32 Euro für Freizeitaktivitäten zur Verfügung. Macrons Erhöhung des Benzinpreises frisst diesen Leuten rund 16 Euro weg, also die Hälfte dieses Freizeitbudgets. Die Pariser Bourgeoisie kann sich schlecht vorstellen, was das bedeutet. Es ist also eine sehr materialistische Bewegung.“

De Lasagnerie gehört wie der Autor Édouard Louis („Das Ende von Eddy“, «Rückkehr nach Reims“), der Philosoph Jean-Claude Michéa und der Geograf und Autor Christophe Guilluy („La France phériphérique“) zu den jüngeren Intellektuellen in Frankreich, die den Gelbwesten-Protest als legitimen Aufstand gegen die „Caviar gauche“ sehen, die links-globalistische städtische Klasse. Von Guilluy stammt der Satz, es sei eben leichter, bei einem Einkommen von 6000 Euro im Monat weltoffen und postmodern links zu sein als mit 2000 Euro im Monat.

Georges-Eugène Haussmann, der frühere Präfekt des Départements Seine und Stadtplaner des modernen Paris gestaltete unter Napoléon III das Bild der Stadt im 19. Jahrhundert grundlegend neu, er ließ die breiten, geraden Boulevards bauen, die sich wie Schneisen durch die Bebauung ziehen. Dadurch bekam Paris nicht nur ein weltstädtisches Erscheinungsbild, verglichen mit dem mittelalterlich geprägten Gewirr von Gassen, das bis dahin Paris ausgemacht hatte. Auch militärische, ordnungspolitische Aspekte spielten in Haussmanns Plänen eine wesentliche Rolle. Die breiten, gut über hunderte Meter überschaubaren Boulevards und Kreuzungen begünstigten die Kampfführung regulärer Truppen gegenüber aufständischen Bürgern. Denn dass es in Paris oft und heftig gärte, war jedem bewusst, der versuchte, diese Stadt und ihre Bürger in den Griff zu bekommen. Haussmann hatte die ideale Lösung gefunden: ein imposantes Erscheinungsbild, und zugleich – im Ernstfall – ein gut zu beherrschendes Schlachtfeld.

Nahe dem westlichen Ende des kilometerlangen Boulevards, der Haussmanns Namen trägt, liegt die große Kreuzung vor der Kirche St. Augustin; hier kommen mehrere der breiten Schneisen zusammen, und hier steht die Statue der Jeanne d’Arc. An diesem Dezembertag stehen sich Gelbwesten und Polizei gegenüber, einander belauernd, ab und an etwas provozierend, aber doch insgesamt passiv. Schwaden von Tränengas ziehen über die Kreuzung, ab und an wird eine der von der Polizei geschossenen Kartuschen aufgehoben und zurück geworfen. Ein wenig erinnern kleinere Gruppen von Ordnungshütern an die Römer aus den Asterixbüchern, wenn sie, einer hinter dem anderen, an Hausecken Deckung nehmen und dann der erste kurz vortritt und ums Eck schaut. Wo zumeist nichts zu sehen ist.

Einige der Demonstranten haben sich mitten auf die Kreuzung gekniet – über die es an einem normalen Tag bei normalem Verkehr niemand lebend schaffen würde – und verharren mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in der Stellung, in welcher zwei Tage zuvor Hunderte von Schülern durch die Polizei gedemütigt wurden. Es sind mehr Fotografen und Kameraleute als Demonstranten, die diese Szene umringen. Zusammen mit den Tränengasschwaden ergibt das pittoreske, historische Bilder, die in ihrer Ästhetik fast vergessen lassen, dass es hier im wörtlichen Sinne um die Wurst geht.

Es ist nicht zu übersehen: ein wesentlicher Teil der Demonstranten entspricht nicht den anfangs aktiven Gelbwesten; viele der jetzt Aktiven haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine solche Weste überzuziehen. Sie sind durchgängig schwarz gekleidet, tragen Helme und Sturmhauben, haben das Gesicht unter Schals und Gasmasken verborgen. Ich sehe einige von ihnen in vorderster Front, sie haben irgendwo Holzverschalungen abmontiert, sind damit Richtung Kreuzung gezogen und haben sich dahinter verschanzt. Die Polizei lässt sie weitgehend gewähren. Es geht keine Gefahr von ihnen aus, nur ab und zu werden ähnliche kleinere Stoßtrupps von ein, zwei Salven aus einem Wasserwerfer hinweggefegt. Hier und da brennen Mülltonnen und rasch herbei geschaffte Holzstapel, das gibt gute Bilder für die Abendnachrichten, bedeutet aber nicht wirklich einen nennenswerten Beitrag zum Aufstand gegen Macron und seine Politik.

Macron? Ach ja. Den gibt es ja auch noch. Vermutlich verschanzt im weitläufig abgeriegelten Viertel um den Elyséepalast. Ob er einen der vergangenen Tage mit Daniel Cohn-Bendit verbrachte? Der machte Wahlkampf für Macron, zählt zu seinen engen Beratern und geht bei ihm ein und aus. Immerhin, der Grüne Ex-68er hat erkannt: „Macron ist total verhasst!“ Wie verhasst, das zeigen die Bilder der letzten Wochen. Obwohl es kaum möglich schien: Macron ist heute noch unpopulärer als sein Vorgänger Francois Hollande. Die Zugeständnisse Macrons reichen den Gelbwesten nicht mehr. Sie wollen das ultimative Symbol, seinen Rücktritt.

Mir stellen sich – mit immer wieder gegenteiligen Antworten – seit Anfang des Aufstands viele Fragen: „Was ist mit der Gewalt? Muss sie sein? Muss das Eigentum anderer Menschen, die nichts für Macrons Politik können, vernichtet werden? Müssen Existenzen aufs Spiel gesetzt werden? Müssen Abertausende von Polizisten den Kopf dafür hinhalten, dass sie sich verpflichtet haben, die Ordnung im Staat aufrecht zu erhalten?

Aber gibt es diese Ordnung überhaupt noch, in der sich Normalverdiener einigermaßen sicher sein konnten, nicht zum Hauptziel staatlicher Beutezüge zu werden? Haben nicht gerade die Politiker – und ich spreche nicht nur von Macron, sondern auch von Angela Merkel – damit angefangen die alte Ordnung zu zerstören? Und braucht es vielleicht zwangsläufig Gewalt, um überhaupt ernst genommen zu werden? Würden die Proteste in Frankreich den Widerhall, diese Aufmerksamkeit bekommen, wenn es nicht brennen und splittern würde? Wenn zwar Hunderttausende in gelben Westen auf die Straße gingen, aber nach der Demonstration, ihren Müll sorgfältig einsammelnd, brav nach Hause schlichen, um ihren Protest in den Abendnachrichten unter „ferner liefen“ abgehakt zu sehen?» Ich finde keine Antworten, die ich abhaken könnte.

In der Rue Lavoisier, einer kleinen Nebenstraße des Boulevards Haussmann, gleich um die Ecke der Kreuzung St. Augustin, hat ein Kleinwagen zu brennen begonnen. Jemand hat offenbar eine Scheibe eingeschlagen und einen Brandsatz hinein geworfen. Was, frage ich mich, kann der Besitzer für Macrons Politik? Wo liegt der Sinn einer solchen Tat? Welche unfassbare Zerstörungswut muss in dem Menschen toben, der das getan hat? Möchte man wirklich mit so jemandem auf der selben Seite der Barrikade stehen?

Ein paar Leute lungern herum und filmen, wie sich das Feuer vom Innenraum langsam nach außen Richtung Motorraum frisst. Man hört in der Ferne die Sirenen der Feuerwehr, aber die Töne kommen nicht näher, man löscht vermutlich erst anderswo, der Wagen kann ungestört weiter brennen. Dicker schwarzer Rauch zieht in der engen Straße an den Hausfassaden hoch. Jetzt hat das Feuer die Alarmanlage aktiviert, der kleine rote Wagen beginnt wie in Todesangst zu blinken und zu hupen, minutenlang. Längst ist nichts mehr zu retten, das Feuer schlägt sich unter dem Auto nach hinten durch, alles steht in Flammen. Noch immer zucken die Blinker, während die Hauptscheinwerfer erloschen sind. Wie durch ein Wunder fängt das unmittelbar dahinter geparkte Auto kein Feuer.

Dann endlich erscheint die Feuerwehr, mit einer seltsam anmutenden Gelassenheit entsteigen die Pompiers mit den prächtigen, blinkend polierten Helmen ihrem Einsatzfahrzeug. Wozu auch noch große Eile. Das Auto ist ohnehin nur noch ein Wrack, auch die Blinker haben aufgegeben. Es wird ein Schlauch ausgerollt, dann wird das inzwischen von selber schwächer gewordene Feuer mit einigen Strahlen weißem Schaum erstickt. Der Schlauch wird eingerollt. Die paar Zuschauer haben ihre Bilder, und da! Brennt da hinten an der Einmündung zum Boulevard Maleshèrbes nicht eine Barrikade? Die Bilder der Liveübertragung brechen ab.

Schauen wir, wie es weitergeht.

14 Kommentare
  • Wolf Manuel Schröter
    15. Dezember, 2018

    Manchmal bin ich geneigt zu verneinen, dass die sich unter die Gelbwesten mischenden Krawallmacher (ein viel zu schwaches, ja falsches Wort: Es sind Verbrecher) bestellt worden sind. Hinter derartiger Mütchenkühlerei unter dem Schutze der Anonymität und sogar noch durch das ursprüngliche Anliegen gedeckt, kann sich doch jeder verbergen, der Angehörige der «jeunesse doree» (das sind tatsächlich viele), der gelangweilte Bürgerliche, der Ungebildete aus der Hefe des Volkes, der nichtintegrierte Mensch mit nordafrikanischen Wurzeln. Genau diese desavouieren das Anliegen der Gelbwesten, und manche von denen muss man nicht einmal rufen, die kommen von allein, weil sie gewaltaffin sind und sich so richtig austoben können. Ansonsten sorgen heutzutage «flash mobs» per Handy dafür, bestimmte Typen zusammenzuholen: Agents provocateurs, die es manchmal selbst gar nicht wissen. Oft aber doch, denn, wie ich schon schrieb, viele durchaus «Gebildete» sind dabei. Ich sehe immer noch das Beispiel aus Belgien vor mir, wo Deutsche (als Hooligans auftretend) einen Menschen mit Eisenstangen (!!) fast tot geprügelt haben: Ein Polizist, der heute noch behindert ist. Studenten, Bankangestellte, Akademiker – anonym, wie sie glaubten! Die Tünche, die über dem archaischen Verhalten des Menschen aufgetragen ist, muss sehr dünn sein.
    Man kann nur hoffen, dass die Gelbwesten weitermachen und sich nicht provozieren lassen.

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  • Edith
    15. Dezember, 2018

    Ich stimme Ihnen zu, dass Gewalt kein adäquates Mittel ist. Das betrifft aber beide Seiten, das fehlt mir bei Ihnen.
    Und ja, es trifft sicher auch Personen, die nicht direkt für die Politik Macrons verantwortlich sind. Aber stellen Sie auch die Streiks bei der Bahn oder Lufthansa in Frage? Auch hier trifft es vor allem die dafür nicht verantwortlichen Reisenden.
    Was nun die Läden auf den Champs-Élysées betrifft, so hält sich trotz meiner ablehnenden Haltung zur Gewalt, mein Mitgefühl für die in Grenzen. Wenn Unternehmen wie Louis Vuitton, Guerlain, Club Med und wie sie alle heißen zwischen 11.000 € und 18.000 € pro Quadratmeter Miete im Jahr zahlen können, gehören die ganz sicherlich nicht zu den Einkommensgruppen, die sich mit einer gelben Weste auf die Strasse stellen, weil ihnen trotz Arbeitsstelle nach Steuer- und Sozialabgaben nicht genug zum Leben bleibt.
    Merkwürdig mutet es auch an, wenn auf der einen Seite «vorsorglich» 1.700 Gelbwesten in Gewahrsam genommen und am Demonstrationsrecht gehindert wurden, um – wie man mitteilte – Gewalt zuvorzukommen – auf der anderen Seite aber in Endlosschleife behauptet, bekannte Gefährder nicht vorsorglich festsetzen zu können, wie jetzt wieder den Attentäter von Straßburg, der bereits 27 Mal verurteilt wurde.

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    • Leif E.
      16. Dezember, 2018

      Demonstrationsrecht? Ich wüßte nicht, dass die Gelbwesten eine Demonstration angemeldet hätten. Folglich handelt es sich um eine Zusammenrottung. Sofern aus der Mitte eines solchen Mob schwere Straftaten begangen werden wie z. B. Brandstiftung, dann hört bei mir jedes Verständnis auf.

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      • Edith
        16. Dezember, 2018

        Die stereotype Reaktion Personen, die die eigene Kompfortzone bedrohen abzuwerten und als Mob, Populist, Rechter, Nazi etc. zu beschimpfen, wird langsam langweilig. Ich empfehle etwas mehr Kreativität.

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      • Martin W.
        17. Dezember, 2018

        Nach deutschen Recht muss keine Demonstration angemeldet werden. Auch spontane Versammlungen sind als Anlass theoretisch wie praktisch möglich. «Zusammenrottungen» gibt es dem Sprachgebrauch nach nur in rechten wie linken Diktaturen. Gewalt ist selbstverständlich immer abzulehnen.

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    • Sabine Schönfelder
      17. Dezember, 2018

      Ich stimme auch zu, daß Gewalt kein adäquates Mittel ist, aber die Auswahl des kleinen Mannes, seine Empörung über verfehlte Politik zu äußern, ist sehr beschränkt. Der Deutsche reicht eine Petition ein, ohne durchschlagenden Erfolg. Da haben die Gelbwesten jetzt schon viel mehr erreicht. Natürlich kann der Besitzer eines zerstörten Autos nichts dafür, wenn Macron vor sich hin dilettiert, aber wenn ein wütender Nafri es abfackelt, bleibt auch nur verbranntes Blech übrig, ohne eine politische Botschaft. Ich denke die Grenzen liegen eindeutig dort, wo Gewalt gegen Menschen eingesetzt wird, wie es die Antifa in Hamburg gegen Polizisten praktizierte. Wer schützt denn uns gegen Migrantengewalt?

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  • Teide
    15. Dezember, 2018

    Wenn ich das lese kann ich die Franzosen verstehen.

    Die politischen Parteien waren allesamt sprachlos geworden; selbst Marine Le Pen war kaum noch zu hören. Die politische Diskussion war einer stillen Administration gewichen. Diese Besinnungslosigkeit der Politik des Landes nutzte Macron zu einem 35 Milliarden Euro schweren Steuergeschenk für große Unternehmen. Diesmal sogar ohne deren Ankündigung zum Dank viele Arbeitsplätze zu schaffen. Und dann ließ er noch die Vermögensteuer – ja es gab sie hier noch! – ersatzlos streichen.

    Erst im Frühjahr 2018, also nach fast einem Jahr Macron-Regierung, kam der erste große Konflikt.

    Im Rahmen der angekündigten Reformen machte sich die Regierung an die Privatisierung der Staatsbahnen SNCF. Nun ist die SNCF in diesem Land eine wahre Institution, der Kern der öffentlichen Unternehmen. Und die Eisenbahner sind seit jeher stark politisiert und organisiert. Die einzige noch nicht vom Arbeitgeberverband domestizierte Gewerkschaft CGT zieht ihre Kraft aus dem harten Kern der bei ihr organisierten Eisenbahner, die bei allen von der CGT organisierten Demonstrationen mit ihren orangefarbenen Signalfackeln für die Atmosphäre sorgen. Vier Monate lang streikten die Eisenbahner in Etappen von jeweils drei Tagen, mit großer Beteiligung und natürlich mit der Schuldzuweisung der Regierung, durch ihren unsinnigen Widerstand die Menschen auf Bahnsteigen warten zu lassen und – weit schlimmer! – die französische Wirtschaftsleistung zu belasten.

    Ins Parlament kam die Privatisierung der SNCF nicht.

    Sie wurde als Annex eines anderen Dekrets von der Regierung eiskalt verkündet. Hier zeigte sich die Lieblingstaktik dieser Regierung: wenig reden und schnell handeln; bei Widerstand einfach weitermachen und ihn aussitzen. Im Fall SNCF ging das auf; zu Beginn der Ferienzeit 2018, einem heiligen Ritual bei dem alle Aktivität des Landes eingestellt wird, versandete der Streik der Eisenbahner.

    Ermutigt vom Erfolg ihrer Politik fror die Regierung dann im September die Rentenerhöhungen ein und belegte auch Rentner mit Sozialabgaben. Und dann kam eine „Reform“, die im Land noch nicht wirklich verstanden worden ist, aber vermutlich zur „Tretmine“ für Macron wird:

    Die Besteuerung an der Quelle.

    Für jeden Deutschen ganz normal: vom Gehalt werden vor Auszahlung Steuer und Sozialabgaben abgezogen. Er sieht sein Netto auf dem Bankkonto. Bis heute ist das in Frankreich anders. Der Franzose bekommt sein Brutto (minus Teile der Sozialabgaben) aufs Konto überwiesen. Seine Steuern bezahlt er erst im Mai des Folgejahres. Per Internet. Und pünktlich, weil mit empfindlichen Bußen bewährt. Im September zögerte die Regierung kurz, ob sie diese Umstellung, die dem Volk als „ihr müsst ja nicht mehr Steuern zahlen“ verkauft wurde, nicht doch besser aufschieben sollte, wurde dann aber von den Arbeitgebern, die längst die IT-Verfahren auf die neuen Verfahren umstellten und diese Projekte nicht zurückfahren wollten, ermutigt, die Reform durchzuziehen. Nun muss man verstehen, dass fast alle Bürger Ende Januar 2019 einen deutlich kleineren Betrag auf dem Bankkonto vorfinden werden – wer ist da schon glücklich. Darüber hinaus fährt man die Aufklärung leise; viele Häuslebauer haben noch nicht verstanden, dass sie ihre finanzielle Belastung, die ja steuerabzugsfähig ist, im Vorfeld beim Finanzamt mit einem Freistellungsantrag anmelden müssen. Sonst wird es eventuell knapp mit der Ratenzahlung, und wann dann irgendwann eine Steuererstattung kommen wird, ist heute noch unabsehbar. Schlimmer: Im Mai 2019 werden alle Bürger ihre Steuern für 2018 „en bloc“ zahlen müssen – von ihren kleineren Nettogehältern und Renten. Hoffentlich haben alle entsprechende Rücklagen gebildet. Das die Umkehrung der Vorleistung eine Superentlastung des Staatshaushalts ist (2019 kassiert der Staat zweimal), hat kaum einer verstanden.

    Und im November sind da plötzlich die „Gelbwesten“, die „gilets jaunes“!

    Wie aus dem Nichts aufgetaucht, vermeintlich wegen einer angekündigten Steuererhöhung auf Diesel. Nur in sozialen Netzwerken organisiert. Aus allen Schichten kommend. Da ist die „Schicht der Unterprivilegierten“ vermutlich große Teile der Partei der Nichtwähler. Das sind die Bezieher von RSA (= Harz IV). Es gibt Intellektuelle, die die Chance der Rettung der Demokratie herbeisehnen. Aber auch viele alleinerziehende Eltern oder Rentner mit kleinen Pensionen. Letzteren hat die Regierung auch noch eine Halbierung (!) der Witwen- und Waisenrenten angekündigt; das motiviert richtig. Inzwischen kommen auch die Schüler dazu.

    Der Rest des Artikels bei Egon-W-Kreutzer, 14.Dezember

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    • Edith
      16. Dezember, 2018

      Danke für den Link Teide. Ich erlaube mir aus dem Artikel weiter zu zitieren, eine hervorragene Schilderung der Situation und Hintergründe:

      Die währenddessen im Fernsehen gezeigten Straßenschlachten auf den Champs-Elysees waren die Folge des Vorgehens der Staatsmacht.

      …… Der neue Innenminister, Christophe Castaner, ein ehemaliger professioneller Pokerspieler, hatte angekündigt, dass keiner das Recht hätte auf den Champs-Elysees zu sein, der eine gelbe Weste trägt.

      Und er ließ seine Polizei die Champs-Elyseesmit 16.000 Tränengasgranaten
      (das ist der Normalverbrauch von zwei Jahren Polizeiarbeit!) und Wasserwerfern räumen.

      Viele völlig friedliche Demonstranten waren von dieser Gewalt überrascht und schockiert. Die Gewalt hat die Solidarität in fast der gesamten Bevölkerung erst ermöglicht. Viele ältere Franzosen erinnern sich durchaus an Bilder aus dem Frühjahr 1968. Auch da brannten in ähnlicher Konstellation irgendwann Autos. Auch nach vier Protestsamstagen und mit sinkenden Temperaturen ist der Protest ungebrochen. Er ist nicht von irgendwelchen Parteien eingenommen worden. Mit Ausnahme der „France Insoumise – der „Nichtunterworfenen Frankreichs“ des Jean-Luc Mélanchon, mit der deutschen Linken nicht wirklich vergleichbar, schweigen alle anderen, weil sie wohl auch ein ungutes Gefühl haben.

      Das persönliche Engagement der Gelbwesten ist erstaunlich.

      Bisher eher unpolitisch erscheinende Menschen aus dem Bekanntenkreis posten und teilen auf Facebook, was das Zeug hält. Paare teilen sich die Kinderbetreuung, damit jeweils einer am Kreisverkehr mit der gelben Weste präsent ist. Nun beginnen auch die Schüler (Opfer verschiedener dilettantischer Reformen der Regierung, die zum Beispiel die Studienplatzvergabe dieses Jahr zu einer einzigen technischen Panne werden ließen) auf die Straße zu gehen und schließen sich den Gelbwesten an.

      Die Regierung beschränkte sich zunächst auf das neoliberale Mantra, dass alle Maßnahmen alternativlos seien. Dabei hielt sich Emmanuel Macron persönlich sehr zurück. Seine Umfragewerte liegen inzwischen unter 20% Zustimmung, ein Negativrekord selbst verglichen mit François Hollande,…

      .. Nach dem dritten Gelben Samstag stellte Phillipe eine Aufschiebung der Steuererhöhung auf Diesel in Aussicht. Erst nach dem vierten Gelben Samstag starrte Macron selbst 12 Minuten in die Kamera des Elysee-Palastes und verkündete 35 Millionen Franzosen vor den Fernsehern (mehr als beim WM-Finale!) er hätte sich doch geirrt und jetzt werde er einige Zugeständnisse machen (Mindestlohn, Sozialabgaben auf Renten).

      Aber sofort zeigte sich, dass diese Ankündigungen unehrlich waren: zwei Drittel der 100€ Erhöhung des Mindestlohns waren „Aufstockung“ also bei der Sozialbehörde zu beantragende staatliche Zuschüsse. Bloß nicht die Arbeitgeber belasten. „Eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer ist undenkbar“. Dieses Stottern der Regierung und ihres Präsidenten ließ die Gelbwesten eher wütender zurück. In die Aufschreie hinein kamen die Nachrichten über das Attentat in Straßburg.

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  • Bechlenberg Archi W.
    15. Dezember, 2018

    Es geht sicher nicht um Luxusläden auf den Champs-Elysées (übrigens eine Straße, die schon lange ihren Glanz verloren hat, dort gibt es fast nur noch Läden, die man auch in beliebigen Fußgängerzonen von Bebra, Quakenbrück oder Würselen findet). Aber es gibt Tausende von Kleingewerblern, die nicht geöffnet haben. An jeder Straßenecke stehen Zeitungskioske, die alle geschlossen sind. Kaum ein Geschäft hat heute geöffnet. Bistros und Restaurants sind verrammelt, Blumengeschäfte, Weinhandlungen, Bäckereien, Spätis. Außenanlagen wie Terrassen wurden demoliert. Es ist Tatsache, dass viele Existenzen in diesen Tagen vernichtet werden. Wären Sie darunter, würden Sie anders reden. Gestrandete Bahnreisende sind etwas anderes als Autobesitzer, die vor ihrem Wrack stehen und nicht wissen, wozu das gut sein sollte.

    P.S. Der Fall des schwer verletzten Gendarmes Daniel Nivel geschah nicht in Belgien, sondern in Frankreich.

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  • dentix07
    15. Dezember, 2018

    «Haben nicht gerade die Politiker – und ich spreche nicht nur von Macron, sondern auch von Angela Merkel – damit angefangen die alte Ordnung zu zerstören?»
    Worunter in D die freiheitlich demokratische Grundordnung zu verstehen ist! Und, ja, haben sie/hat sie!
    Einen demokratischen Staat erkennt man daran, dass man die Regierung ohne Gewalt loswerden kann!
    Nun das hat in D schon mal nicht geklappt! De facto sind die Verhältnisse so, daß der Wähler wählen kann was er will (außer die Parias-Partei namens AfD), die Politik (und die Regierung auch) bleibt die gleiche! Er wird sie also auf diese Weise nicht los!
    Da gibt es so zwei schöne Sätz im Grundgesetz Artikel 20:
    » (1) …
    (2) …
    (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende
    Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
    (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben
    alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich
    ist.»
    Denken wir an Merkel sehen wir, dass sich zumindest die vollziehende Gewalt, sprich Regierung, nicht an Recht und Gesetz hält, dass sogar Teile der Rechtsprechung urteilen, dass in einigen Bereichen (Asylrecht) Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt sind.
    Was anderes als der Versuch die freiheitlich demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu beseitigen kann das sein, und gegen den «andere Abhilfe» (z.B. durch Wahlen) nicht (mehr) möglich ist!?
    Ergo: Selbst das Grundgesetz stünde auf Seiten möglicher deutscher Gelbwesten, selbst wenn sie Gewalt anwenden würden, denn diese wäre durch den Angiff auf die bestehende Ordnung und die Unmöglichkeit den «Angreifer» friedlich loszuwerden gerechtfertigt!
    (Im Grunde ist sogar die – man kann es nicht anders nenen – Diffamierungskampagne gegen die AfD, als einziger nicht zu den «Blockflöten» gehörender Partei, ein Versuch die fdGO auszuhebeln, denn «etablierte» Parteien und Medien setzen dafür demokratische Spielregeln außer Kraft!)

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  • lotatar
    16. Dezember, 2018

    Informationsgehalt: Null.

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    • Martin W.
      17. Dezember, 2018

      @Lotatar

      Der Artikel war eine Reportage und keine akademische Anhandlung eines Gesellschaftswissenschaftlers.

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  • Peter Müller
    16. Dezember, 2018

    Die «Gelbwesten» sind, soweit bekannt, keine zentralistisch gesteuerte Organisation.
    Es kann sich also jeder mit eigenen Zielen anschließen.
    Von G20 in Hamburg ist bekannt, dass exzessive Gewalt keine ideologische oder sonstige Begründung braucht – wer käme auch sonst auf die Idee, ältere Kleinwagen anzuzünden?
    Die Stärke der Bewegung ist somit auch ihre Schwäche.
    Vermutlich werden die Weihnachtsfeiertage Monsieur le President eine Atempause verschaffen.
    Der Ursprung der Proteste dürfte darin begründet sein, daß die Mittelschicht heute in D, F und anderern europäischen Ländern zunehmend das Gefühl hat, das ihre Interessen von einer pseudo-links-liberalen Elite nicht mehr vertreten werden.
    Die «Unzufriedenen» leben, arbeiten und fühlen regional, während die «Globalisten» (und solche, die es gerne wären) «Nationalstaaten» für obsolet halten.
    Juncker, Macron, Merkel und Co. ignorieren diese Befindlichkeit nicht nur, sondern «kündigen» quasi die alten Übereinkünfte zwischen Regierten und Regierung einseitig auf.
    Bei unserer Bundeskanzlerin kommt noch ein eklatanter Mangel an verständlichen Begründungen für das eigene Tun und fehlende Empathie für die Bevölkerung hinzu.
    Zudem scheint AM auch keinen allzu großen Respekt vor der eigenen Partei und dem Parlament zu haben: ihre maßgebliche Weichenstellungen traf sie ja unter Ausschluss des Parlamentes und der Öffentlichkeit.
    Hierzulande wirkt bislang noch das Zusammenspiel der Leitmedien und der politischen Klasse, die eigentlich einer Einheitsmeinung huldigen, flankiert von einer florierenden Ökonomie.
    Allerdings scheint absehbar, dass die Zeichen derzeit auch hierzulande auf «Veränderung» stehen.
    Dies weniger, weil die Bürger plötzlich die «Nase voll» haben, sondern eher deshalb, weil «grüne Moral» und «globale Ökonomie» im Ergebnis für den Durchschnittsverdiener weitere Belastungen und Einschränkungen bringen werden.

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  • Martin W.
    17. Dezember, 2018

    Bringen wir es auf den Punkt: Wir sehen in Frankreich einen Klassenkampf. Lokalisten versus Globalisten bzw. 80% Volk versus 20% Elite bzw. die französische(n) Provinz(bewohner) versus die Hauptstadt(bewohner).

    Anmerkung: Ich stelle mir grade die Zustände in Paris in Tokio oder Yokohama vor. Ich weiss. Eine wirklich groteske Idee.

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Original: Eine materialistische, flammende Bewegung

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