Der Wochenrückblick: In Wien ist meine Meinung gefragt. Aber Berlin modelliert meine Synapsen
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Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 10 min Lesezeit
Es heißt immer: je älter man wird, desto schneller kommt einem der Lauf der Zeit vor. Auch diese Gewissheit ist von Donald Trump pulverisiert worden. Wie alle anderen Gewissheiten. Ein Jahr Trump, das ist eine Ära, eine Epoche, ein Passionsweg. Das sind, zumindest in den deutschen Redaktionen, zwölf Monate in Erwartung des Impeachments für die jeweils nächsten vier Wochen.
Für Größenvergleiche müssen ja hierzulande immer das Saarland (Fläche) und der Bodensee (Volumen) herhalten, deshalb: Um die deutschsprachige Sekundärliteratur inklusive Internetausdrucke zum ersten Amtsjahr des amerikanischen Präsidenten endzulagern, wäre ein saarlandgroßes Becken von durchschnittlicher Bodenseetiefe grade gut genug. Das darf nur nicht zu Trumps Ohren kommen, sonst twittert er sofort: Let’s build this. Great!
In der vorläufig letzten Schicht dieses Reservoirs liegt ein Tweet eines Politikers, der anders als der Wahnsinnige von Washington weißgott kein Isolationist ist.
„Seit einem Jahr ist Trump nun im Amt“, schreibt Martin Schulz: „Ihn abwählen können nur unsere amerikanischen FreundInnen. Wir können ihm und den anderen Hetzern die größte Demokratiengemeinschaft der Welt entgegensetzen: Europa. Europa wird aber nur mit der SPD stärker.“
Wozu, so sein dialektischer Schluss, die SPD erst einmal ins Kabinett Merkel IV muss (was der Parteitag ja auch beherzigte). Sofort möchte man wissen, wie wir uns beides vorzustellen haben. Nicht Merkel IV und einen Außenminister Schulz, sondern erstens die Stärkung Europas durch die SPD, der Hoffnung für einen ganzen Kontinent, und zweitens die Gegenbewegung, die der mit einer lebertranartigen SPD gestärkte Erdteil gegen die USA resp. Trump repräsentieren soll. Bevor M. Schulz die Operation Enduring Sozialdemokratie anführt, sollte er allerdings noch einmal kurz in die Runde fragen, ob mehr als die Hälfte oder auch nur ein nennenswerter Teil der Polen, Ungarn, Balten, Norweger, Finnen, Isländer, Österreicher, Schweizer und Briten es wünschen, sich den USA unter deutscher Expeditionsleitung im Kampf von Auenland gegen Mordor entgegenzuwerfen.
Willy Brandt hatte einmal bemerkt – und damals, 1972, stand seine Partei bei über 42 Prozent – die SPD sei keine Weltmacht. Nicht nur die Möglichkeiten der Sozialdemokratie, sondern auch die machtpolitischen Kapazitäten ganz Deutschlands scheinen mir mit der von Angela Merkel angekündigten Beobachtung Österreichs im Wesentlichen ausgeschöpft.
Überhaupt, die Ostmark! Vor einiger Zeit hatte ich in einer Zeitung gelesen, der ehemalige Außenminister Joseph Fischer fliege nach Wien, denn: „Dort ist seine Meinung gefragt“. Das geht mir nicht anders; kaum sitze ich eine Stunde im Café Griensteidel, werde ich bestürmt, meine Meinung zu sagen. „War der Paradeisersalat recht? Noch einen Vernatsch?“ Ich erwähne das nur, weil es sich um einen wirklich guten Beobachtungsplatz für jeden handelt, der das Wiener Regierungsviertel kritisch im Blick behalten will. Und Fischer wäre doch nicht der schlechteste Kommissar aus dem Altreich, besser sogar noch als Jürgen Trittin, dessen Frisur – die lange Strähne in der Stirn – ihn für diese Position etwas zu exponiert macht.
Wo wir bei Haaren sind: Im Bundestagwahlkampf ging unter Journalisten das Gerücht um, derjenige, der Martin Schulz für dessen Twitter- und Facebook-Account immer wieder von hinten ablichtet, und zwar so, dass sein Schädel mit den beiden ineinander verschränkten Haarstreifen zuverlässig vor halbleeren Räumen zu sehen ist, derjenige jedenfalls müsse eine eingeschleuste Kraft der Gegenseite sein, losgeschickt von Trump, Putin oder Kevin Kühnert, um den Stärker Europas buchstäblich hinter seinem Rücken lächerlich zu machen. Mittlerweile tendiere ich zu der These: Dahinter steckt überhaupt nichts. Es fällt keinem auf. Es ist einfach Wurst.
Gut übrigens, dass unsere ohnehin unter nervlichem Druck stehenden Politiker von Berlin nur wenig mitbekommen. Der „Tagesspiegel“ hatte in dieser Woche einen längeren Text der Frage gewidmet, wie die Hauptstadt das Gehirn umformt. Nämlich so:
„Viele der Reaktionsmuster, die in unserem Gehirn ablaufen, sind vor Zehntausenden von Jahren entstanden, im Berlin des Jahres 2018 sind sie fehl am Platz. Man merkt es nicht immer: Als Berliner ist man permanent in Gefahr. Jedenfalls nimmt unser Gehirn das so wahr. Vormittags gibt es im Büro Druck vom Chef, nachmittags wird sich im Supermarkt vorgedrängelt, abends hört der Nachbar laut Musik – das alles stresst uns, wird vom Hirn als Bedrohung erkannt und löst eine unvermeidliche Reaktion aus.“
Im Prinzip ist damit die Hektik des Urberliner Erwerbslebens gut beschrieben. Vormittags Druck vom Chef, nachmittags um drei läuft jemand an der Rewe-Kasse an dir vorbei, und abends hört der aus München zugezogene Nachbar laut die Alpensinfonie. Obendrein hat der Münchner etwas, was Berliner nicht haben: eine Eigentumswohnung in Berlin.
Das ist leider keine Selbstbeschreibung, ich wohne in meinem vorgeschobenen Beobachterposten an der Grenze von Schöneberg und Kreuzberg zur Miete. Niemand bringt mir Wiener Paradeisersalat oder wenigstens ein Paulaner an den Schreibtisch.
Was mich angeht, modellieren Berliner Kräfte auch meine Synapsen, allerdings andere Kräfte als die vom Tagesspiegel beschriebenen. Ende November fanden sich ein paar Fahrradminuten entfernt etwa hundert so genannte Jugendliche zusammen, um Auto- und Fahrradfahrer mit Böllern zu bewerfen. Vor gut vier Wochen mussten auf der Straße um die Ecke mehrere Männer unter Zuhilfenahme von Messern etwas miteinander klären. In der Station Yorckstraße wiederum hatte gerade ein Mann drei Obdachlose mit Fäusten und Messer traktiert. Am U-Bahnhof Güntzelstraße, auch nicht weit, erstach ein abgelehnter, aber nicht abgeschobener Asylbewerber kürzlich einen 21jährigen Mann.
Und ich kann sagen, ich bin nicht dabei gewesen. In der Fahrschule lernt man bekanntlich, vorausschauend zu fahren. Hier in Berlin, vorausschauend zu laufen und zu radeln. Beziehungsweise, wie ich mich erst vertippt hatte, vorausscheuend. So verkehrt sind unsere vor zehntausenden Jahren entstandenen und mittlerweile etwas schlaff gewordenen Reaktionsmuster gerade in dieser Stadt eben doch nicht.
Was gab es noch in der rasenden Woche? Vor 25 Jahren entstand in Deutschland eine anschwellende Erregung über den Text „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß, seinerzeit veröffentlicht im Spiegel. Heute hebt eine Aufregung, ein so genannter Diskurs über Strauß’ Sohn Simon Strauß an, der für die FAZ schreibt. „Ist Botho Strauß ein Faschist?“, fragte 1993 die taz. Selbstverständlich ist Simon Strauß so etwas ähnliches, antwortet heute eine gewisse Antonia Baum in der „Zeit“, die in erster Linie die FAZ verantwortlich macht, „wo der Feuilletonredakteur Simion Strauß die Seiten mit AfD-Sorgen in Proseminar-Sprache vollschreibt“. Was bedeutet: Simon Strauß schreibt in einer Sprache, die Baum ihr Lebtag nicht erreicht, über Themen, die Baum ihr Lebtag lang meiden wird. Außerdem stellt sie fest – und das ist gewissermaßen die Überführung – Strauß jr. habe einen Roman geschrieben, dessen Stimme einem Quasifaschisten gehört: „Der Erzähler isst Fleisch und fährt Auto.“
In bestimmten Teilen Berlins – auch da wirkt die Berliner Evolution – ist beides schon ausgemerzt.
Und das schreibt, ganz halbnüchterner Beobachter mit süddeutschem Hintergrund, ein Anzugträger, Fahrradfahrer und Vegetarier. Daher der Paradeisersalat, den ich mir selbst machen muss, wenn ich gerade wieder gut nach Hause gekommen bin.
Nicht nur durch Trump, auch durch das Leben zwischen München und der Hauptstadt kommt mir das Leben neuerdings vor wie ein langer, unruhiger Fluss.
9 Kommentare
Original: Der Wochenrückblick: In Wien ist meine Meinung gefragt. Aber Berlin modelliert meine Synapsen
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Truckeropa
21. Januar, 2018Guter Artikel insgesamt!
Aber ein Punkt bohrte sich beim Lesen in meinen Sinn, unsere allseits so beliebte A.M. hat ein besonderes Augenmerk auf Östereich geworfen….. weil ihr nicht gefällt was grade dort geschied…..wenn das so weitergeht, wird dann dort einmarschiert?
Das Rezept gab es doch schon mal, … . Ein Schelm wär hier böses denkt…….
Zumal doch die anderen in unserem Staat die bösen sein sollen……
inselhof
22. Januar, 2018Lieber Truckeropa,
ja selbst wenn A.M. dies wollte, sie kann es nicht mehr. Fragen Sie doch mal eine Frau vdL, sie wird Ihnen sagen der Kindergarten funktioniert bei der BW ja wunderbar; aber das Andere, das Andere…?
Simon Templar
22. Januar, 2018Mit was will sie denn ggf. einmarschieren? Mit der Berliner Feuerwehr?
maja1112
21. Januar, 2018Es ist einfach nur mehr lächerlich. Wir haben es gerade nötig irgendjemand zu maßregeln oder vorzuführen. Wir sollten erst mal unser Haus grundsanieren und dann neu streichen. Aber ich bin guter Hoffnung, dass unser Buchhändler aus Würselen mit dem viel zu üppigen Gehalt, das jetzt im Schweinsgalopp in Angriff nimmt.
kdm
22. Januar, 2018Ich schreib das schon mal woanders: Das einzig brauchbare an der ZEIT ist (immer noch) «Um die Ecke gedacht».
Karl Kuhn
22. Januar, 2018Der Originaltitel der Movie-Serie ist ja nicht ‘Stirb langsam’, sondern ‘Die hard’ … das heißt wörtlich übersetzt ‘zählebig’, macht sich nicht gut als deutscher Filmtitel, aber passt in politischer Hinsicht besser zu Merkel.
Thomas F.
24. Januar, 2018Ähhh, nein. «Die hard» heißt «Stirb langsam (und qualvoll)». Zählebig wird mit «tough» übersetzt. Und es heißt ja nun einmal nicht «Die tough».
Gerrit Königshardt
24. Januar, 2018Der Autor hat eine «Bombenschreibe». Danke dafür und weiter so!
Enrico Stiller
25. Januar, 2018Wir verbieten doch auch Ernst Moritz Arndt (jedenfalls als Uni-Name, so in Greifswald). Wir verbieten Eugen Gomringer (Gedicht auf der Fassade der Alice-Salomon-Schule, Berlin). Wir verbieten Kruzifixe im Gerichtssaal, wenn die zarten Gefühle eines asylantischen Schwer-Gewalttäters verletzt werden könnten (Miesbach), wir verbieten die Altersfeststellung bei bärtigen, messerschwingenden «minderjährigen» Einwanderern, wir verbieten Hate Speech (jedenfalls dann, wenn er aus der falschen politischen Richtung kommt)…
– Können wir denn nicht einfach Österreich verbieten?